Realitätstest für ein zukunftsweisendes Stadtmodell
Amsterdam richtet mit dem Doughnut-Modell den Blick auf Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit
Raworth hat sich nach 20 Jahren Tätigkeit in der Entwicklungshilfe die beliebte Süßspeise für ihr Modell der sogenannten Doughnut Economics zunutze gemacht und damit eine mögliche Formel für eine nachhaltigere Entwicklung unseres Planeten Erde entwickelt. Das Modell basiert zum einen auf den UN Sustainable Development Goals als gesellschaftlicher Basis und den fortschreitenden Degradierungsprozessen wie dem Klimawandel auf der anderen Seite. Beide Aspekte bilden sozusagen die Ränder des Doughnut ab. Im Idealfall aber geht es um das Innere des Rings, denn nur hier entsteht ein Weg, mit dem die Menschheit ihre Bedürfnisse befriedigen kann, ohne den Bestand der Erde weiter zu gefährden.
Mit ihrem Modell will Kate Raworth auch einen Paradigmenwechsel für die Wirtschaftswissenschaften im 21. Jahrhundert anstoßen. Ihrer Meinung nach sollten nicht mehr Angebot und Nachfrage oder jährliche Wachstumsquoten Paradigmen für Wohlstand und Wachstum sein. Vielmehr muss ein Weg erreicht werden, auf dem wir ökonomischen Erfolg mit ökologischen und sozialen Herausforderungen verknüpfen können. Den nur auf diese Weise wird es uns als Menschheit gelingen, die aktuellen globalen Herausforderungen wie die stetig zunehmende Weltbevölkerung oder die ungleiche Verteilung der Ressourcen auf der Erde Herr zu werden.
Ökologisches Handeln auch für Verwaltungen wichtig
Auch für das Verwaltungshandeln kann und sollte das Doughnut-Modell ein Maßstab sein: Eine zentrale Hoffnung der fortschreitenden Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung ist es, ihre Prozesse effizienter und damit nicht zuletzt auch ökologischer zu machen. Zahlreiche deutsche Großstädte haben in den vergangenen Jahren zwar mit der Umsetzung von „Smart-City“-Strategien begonnen, nach einer aktuellen Untersuchung spielt aber der Klimawandel darin aber nur eine untergeordnete Rolle. Ein Blick in eines unserer Nachbarländer zeigt, dass es auch anders geht.
Amsterdam wagt sich nämlich jetzt daran, das Doughnut-Modell in den kommenden Jahren einem Praxistest zu unterziehen. Die Stadt steht wie viele andere ihrer Größe vor zahlreichen Herausforderungen und die Problemfelder sind offensichtlich: Seit 1990 haben die CO2-Emissionen der Stadt um ganze 31 Prozent zugenommen. Stolze 62 Prozent davon sind durch den Import von Lebensmitteln, Baumaterialien und anderen Konsumgütern für die zunehmende Zahl von Einwohnern angefallen.
Angespannter Immobilienmarkt lässt Mieten steigen
Aber nicht nur auf der ökologischen Seite gibt es offenkundige Probleme, auch die sozialen Schattenseiten sind unübersehbar. Viele Bewohner Amsterdams müssen mit sehr wenig Geld auskommen und leben an der Armutsgrenze. Rund 20 Prozent der Menschen geben den Großteil ihres Einkommens für die Miete aus und haben wenig bis gar keinen Spielraum für den weiteren Lebensunterhalt. Daher sind sie auf Zuschüsse angewiesen. Auch wenn die Antragstellung online eingereicht werden kann, hat dies keinerlei Einfluss auf die Bewilligungsrate: Von den rund 60.000 online eingegangenen Bewerbungen für Zuschüsse für die Mietzahlungen konnten zuletzt nur kümmerliche 12 Prozent bewilligt werden.
Die stellvertretende Bürgermeisterin Marieke van Doorninck benennt eine mögliche Ursache des Problems: Die hohen Mietzahlungen resultieren ihrer Meinung nach nicht allein in der Tatsache, dass die Stadt zu wenig Wohnraum zur Verfügung stellt. Vielmehr ist der Immobilienmarkt derzeit ein bevorzugtes Investment für Anleger, was die Preise zusätzlich nach oben treibt.
Umweltbewusstes Bauen
Daher ist der Bereich der Immobilienwirtschaft eine Zielscheibe der zukünftigen Bemühungen Amsterdams um mehr Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit. So hat Marieke van Doorninck angekündigt, dass Amsterdam das Bauen umweltfreundlicher gestalten will. Auf diese Weise soll dafür gesorgt werden, dass Neubauten aus recycelten und biologischen Baustoffen wie Holz entstehen. Diese umweltbewusste Auflage soll auch das schnelle Hochziehen immer weiterer Anlageobjekte stoppen.
Ehrgeiziges Ziel bis 2050: eine komplette Kreislaufwirtschaft
Das Doughnut-Modell öffnet nach Meinung der Stadtverwaltung von Amsterdam eben auch den Blick auf neue Perspektiven für politische Entscheidungen und hilft dabei, ausgetretene Pfade auch einmal zu verlassen. Der Ehrgeiz der Stadt zeigt sich auch im Rahmen der “Circular 2020-2025 Strategy”, mit der auf Basis von Raworths Modell die zentralen sozialen und ökologischen Herausforderungen angegangen werden sollen. So sollen beispielsweise der Verbrauch von Rohstoffen sowie die Lebensmittelverschwendung bis 2030 halbiert werden. Bis 2050 will Amsterdam komplett auf eine Kreislaufwirtschaft umgestellt haben, in der die es kaum noch zu Abfall kommt und die meisten Rohstoffe für die Produktion wiederverwendet werden können.
Gerade angesichts der befürchteten wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise erscheinen diese Ziele umso ehrgeiziger, doch an dieser Stelle geht es um nicht mehr als einen ressourcen- und umweltverträglichen Neuaufbau der Wirtschaft. Wenn sich andere Städte, Regionen und Länder dem Beispiel von Amsterdam anschließen, könnte der „Doughnut-Effekt“ stellvertretend für eine ökologischere und damit bessere Zukunft stehen wird.
Kopenhagen zieht nach
Und die Zeichen dafür stehen gut: Wie Kate Raworth Ende Juni auf ihrem Twitter-Account vermelden konnten, will eine weitere europäische Metropole dem Bespiel Amsterdams folgen. Die Stadtverwaltung von Kopenhagen hat angekündigt, die dänische Hauptstadt ebenfalls in eine Doughnut-Stadt umwandeln zu wollen. Bis Ende des Jahres soll ein politischer Plan entstehen, wie das Modell die Wirtschaft und die Stadtentwicklung nachhaltig verändern kann.
Und Deutschland?
Auch für deutsche Metropolen und Kommunen könnte das Modell des Doughnuts natürlich ein praktikabler Ansatz sein, um sich für die Herausforderungen der Zukunft zu rüsten. Und diese werden eher zunehmen, was eine Umsetzung umso wichtiger macht. Diesmal haben wir allerdings keine Zeit, wie so oft erst einmal abzuwarten und das Feld unseren europäischen Nachbarn zu überlassen, deren Best-Practice-Beispiele wir dann irgendwann evaluieren und möglicherweise umsetzen. Das Beispiel Amsterdam zeigt, dass das Doughnut-Modell ein praktikabler Weg sein kann, sozial und ökologisch in die goldene Mitte zu gelangen.