Der öffentliche Sektor steht vor enormen Herausforderungen: Fachkräftemangel, steigender Digitalisierungsdruck und mehr Aufgabenbereiche bei weniger Personal. Die Folgen wie Bearbeitungsstaus, unzufriedene Bürger und überlastetes Personal sind bereits zu spüren.
Aus zahlreichen Interviews und Gesprächen mit Fachkräften und leitenden Personen in Sozialversicherungen kristallisiert sich ein zentrales Anliegen heraus: die Entlastung in der Fallbearbeitung, um deren Handlungsfähigkeit auch nach kommenden Pensionierungswellen zu gewährleisten.
Verschiedene Ansätze unterstützen dieses Anliegen. So können Organisationen die Attraktivität des Arbeitsplatzes steigern, um so mehr und besseres Personal anzuwerben. Eine andere Möglichkeit ist bestehende Prozesse effizienter zu gestalten damit Fachkräfte z.B. weniger Zeit pro Fall aufwenden müssen.
Eine sehr wirksame Möglichkeit zur Effizienzsteigerung in Geschäftsprozessen ist der Einsatz von intelligenten Datenanalysen und künstlicher Intelligenz (KI).
Doch hat KI wirklich das Potenzial “die” Lösung für effizientere Geschäftsprozesse im öffentlichen Sektor zu sein? Die Antwort: Ja, aber die Technologie ist nur ein Teil der Lösung. Denn KI ist letztlich wie ein Spezialwerkzeug: Es ist für bestimmte Aufgaben besser geeignet, als für andere; und am Ende entscheidet die richtige Kombination aus Planung, Fachwissen und Erfahrung über den Erfolg.
KI hat viele Stärken und einige Schwächen. Sie erkennt Muster in historischen Daten und wendet diese auf neue Fälle und Anfragen an. Sie verknüpft große Mengen an Informationen in Sekunden, kann Aufgaben erheblich schneller bearbeiten und ist jedoch nicht unfehlbar. Sie kann komplexe Entscheidungen strukturieren und nachvollziehbar darstellen, die Qualität der Entscheidungen hängt jedoch stark von der Qualität der Daten ab.
Während diese eher technischen Herausforderungen von erfahrenen KI-Experten gut gelöst werden können, gibt es im öffentlichen Sektor häufig weitere Stolpersteine, an denen eine Einführung von KI schnell scheitern kann. So sind Geschäftsprozesse gesetzlich geregelt und basieren häufig auf sensiblen personenbezogenen Daten. Für Fachexperten ist es im Vorfeld schwer zu greifen welche Implikationen eine KI auf die Rechtslage hat, und KI-Experten kennen selten alle dem Prozess zugrundeliegenden Gesetze. Das führt zu Spannungen zwischen Innovation und Rechtssicherheit. Dieses Spannungsfeld erfordert einen sorgfältigen und regen Informationsaustausch zwischen den Beteiligten.
Eine weitere häufige Sorge ist, dass durch KI mehr Fehler in den Prozess gelangen könnten. Beispielsweise könnte ein Chatbot problematische Aussagen treffen, für welche die Organisation haftbar gemacht wird. Oder bei einer Fallpriorisierung kommt die Frage auf, ob alle wichtigen Fälle gefunden werden. Hier sollten Sie sich von der Vorstellung lösen eine KI müsste stets perfekt arbeiten: Die KI kann maximal so gut arbeiten, wie die historischen Daten auf der sie gelernt hat; und diese enthalten stets auch vergangene Fehlentscheidungen von Menschen. Sie sollten sich eher fragen: Macht die KI weniger Fehler als die durchschnittliche Fachkraft? Können Sie dies mit Ja beantworten, ist der Mehrwert offensichtlich.
Zudem macht es häufig Sinn KI-Lösungen als transparente und faire Entscheidungsunterstützung zu konzipieren. Das heißt, die Fachkraft trifft KI-unterstützte, fundierte und transparente Entscheidungen und behält die volle Kontrolle.
Ein dritter Stolperstein sind Sorgen und fehlende Akzeptanz von Mitarbeitenden. Mitunter kommt die Sorge auf, ob die KI langfristig den eigenen Job gefährden könnte. Dieses Misstrauen hemmt die Akzeptanz von KI enorm.
Um diesen Sorgen zu begegnen sollten die betroffenen Personen von Anfang an auf strukturierte Art einbezogen und ein offener Dialog gesucht werden. Das schafft die Basis für Vertrauen und sorgt dafür, dass die entwickelte KI-Lösung den Anwendern den größten Nutzen bringt und so ihre persönliche Wertschöpfung im Beruf steigern kann.
Die wichtigsten Stolpersteine
- Stolperstein 1: Passende Balance zwischen Innovation und Rechtssicherheit
- Stolperstein 2: Akzeptanzprobleme durch Fehler der KI oder fehlende Transparenz
- Stolperstein 3: Widerstände und Sorgen von Fachkräften und Betroffenen
Ein Beispiel für eine Organisation im öffentlichen Sektor, welche diese Stolpersteine schon mehrfach erfolgreich überwinden konnte, ist die Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM). Die BG ETEM hat verschiedene Bereiche – vom Rehamanagement, über Mitglieder und Beitrag bis zur Prävention – und konnte bereits etliche erfolgreiche KI-Lösungen in den Produktiveinsatz bringen. So wurde z.B. bereits vor 5 Jahren ein KI-gestütztes Regressmeldeverfahren eingeführt:
„Wir konnten unser Regressmeldeverfahren durch den Einsatz künstlicher Intelligenz teilautomatisieren,“ berichtet Franz Schaufler, Leiter der Abteilung Regress. „Die hohe Zeitersparnis durch die Nutzung von KI entlastet unsere Mitarbeiter, wodurch sie sich auf ihre Kernaufgaben fokussieren können. Zusätzlich hilft die KI uns, sonst unentdeckte Regressansprüche geltend zu machen. So konnten wir allein in der Pilotphase 1,1 Millionen Euro Zusatzeinnahmen generieren.“
Zwar war hier die reine Effizienzsteigerung durch KI ein wichtiger Faktor zum Erfolg, genauso wichtig war jedoch die Einbindung der Fachkräfte von Beginn an. So konnte die KI-Lösung nicht nur zielgenau entwickelt, sondern auch früh das Misstrauen gegenüber der neuen Technologie abgebaut werden. Zudem wurde das Regressmeldeverfahren durch die Einführung von KI rechtssicherer: Die regressrelevanten Fälle können nun rechtzeitig und vollständig bearbeitet werden.
Ein weiteres Beispiel für ein erfolgreich eingeführtes KI-Projekt in der BG ETEM ist RehaPlus: eine KI-Anwendung zur frühzeitigen Identifikation von Fällen mit besonderem Rehabilitationsbedarf. Auch hier wurden die Fachkräfte von Anfang an mit einbezogen. Dr. Johannes Hüdepohl, Leiter der Stabsstelle Controlling, erklärt: „RehaPlus ist das Ergebnis einer zweijährigen sehr erfolgreichen KI-Entwicklungsarbeit mit der anacision GmbH. Seit Oktober 2021 ist die KI-Anwendung produktiv und unterstützt Beschäftigte bei der frühzeitigen und zuverlässigen Identifikation von Fällen mit besonderem Rehamanagement-Bedarf. Mit RehaPlus hat die BG ETEM ihre Fälle kontinuierlich im Blick und erkennt so z.B. schneller als bisher unerwartete Verschlechterungen im Heilverlauf.“
Der Sorge vor Fehleinschätzungen durch die KI wurde durch eine möglichst transparente Gestaltung des Systems und der Einbindung von Kontextfaktoren Rechnung getragen: So hat die Sachbearbeitung bei jeder KI-Prognose konkrete Einblicke in die jeweiligen Einflussfaktoren, und eine Maske erlaubt das Protokollieren und Einbeziehen wichtiger „weicher Faktoren“ (z.B. Sprachbarrieren) während des Erstkontakts mit dem Versicherten. „Damit erreicht die Arbeit der Sachbearbeitung hinsichtlich des Rehabilitationsprozesses für den Versicherten eine neue Qualitätsstufe,“ so Dr. Hüdepohl weiter. „Interne Nutzerumfragen zu RehaPlus zeigen mehr als 90 % positive Bewertungen, was auch ein Erfolg der guten Zusammenarbeit mit der anacision GmbH ist.“
Die Beispiele der BG ETEM zeigen, dass eine erfolgreiche Einführung von KI im öffentlichen Sektor möglich ist. Der Einsatz von KI bietet eine reale Chance, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, Prozesse effizienter zu gestalten und die Qualität der Dienstleistungen zu steigern. Den typischen Stolpersteinen sollte man vor allem mit der proaktiven und dauerhaften Einbindung aller perspektivisch Beteiligten begegnen, und mit einem KI-Partner, der nicht nur die Technologie im Blick hat, sondern auch den Menschen, dem sie am Ende nutzen soll.
📅 anacision auf dem 3. ZuKo Sozialversicherungen
27. November 11:15 - 12:00: Best-Practice-Dialog I.A.3
KI-Transformation Schritt für Schritt: Schnell starten, Stolpersteine vermeiden, Vertrauen aufbauen
3. ZuKo Sozialversicherungen - Soziale Sicherheit im digitalen Wandel
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27. November
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Kongressbereich im Hotel de Rome
Als Satellit des Zukunftskongresses Staat & Verwaltung findet am 27. November 2024 das 3. ZuKo Sozialversicherungen unter dem Leitmotiv Soziale Sicherheit im digitalen Wandel im Berliner Hotel de Rome statt. Es dient als Ort, die Zukunft des deutschen Sozialversicherungssystems mit seinen fünf Säulen im Lichte des demografischen Wandels, der Digitalisierung, der steigenden Leistungsausgaben bei vergleichsweiser geringer Lebenserwartung sowie der Fachpersonalgewinnung zu adressieren und neue Denk- und Herangehensweisen zu fördern.