Verwaltung der Zukunft: Guten Tag Herr Bönig, Sie sind der amtierende CDO der Stadt Stuttgart. Können Sie kurz Ihre Aufgabe beschreiben?
Bönig: Ein CDO ist im Querschnittsbereich gesamtverantwortlich für den digitalen Wandel und die digitale Transformation, um diesen von der Planung bis hin zur Realisierung aktiv zu gestalten, alle Abläufe zu synchronisieren, Synergien auszuloten und bei alle dem ein klares digitales Zielbild zu verfolgen. Mit der Strategie zur Digitalisierung der Stadtverwaltung liegt i.d.R. ein Gesamtkonzept vor: Dies Realität werden zu lassen ist sicherlich die Kernaufgabe eines jeden CDO. Zusätzlich ist die Beratung der Führungsspitzen wie auch der Fachbereiche ein wesentlicher Fokus.
VdZ: Herr Bönig, Sie waren bis Juni dieses Jahres in München als CIO und CDO verantwortlich. Was haben Sie nach Stuttgart mitgenommen?
Bönig: Es ist ein sehr großes Unterfangen, eine Kommune zu digitalisieren. Eine erhebliche Herausforderung ist, dass meist nur das „Papier“ im Fokus der Digitalisierung der Verwaltung steht und nicht der Prozess an sich. Je größer die Verwaltung, desto schwieriger wird auch eine flächendeckende Digitalisierung, da die Anzahl der Schnittstellen mit der Komplexität deutlich ansteigt. Von großer Bedeutung für die Digitalisierung ist es zu verstehen, dass wir in der Verwaltung sowohl einen Kulturwandel brauchen, als auch eine echte Verwaltungsmodernisierung. Ein solcher echter „Kulturwandel“, um Digitalisierung als Fokus für mehr und bessere Services für die Bürger*innen und Wirtschaft konsequent einzusetzen, steht in den allermeisten Fällen noch aus. Kurz gesagt: Digital 1st findet oft weder in den ‚Köpfen‘ noch in den aktuellen systemischen Strukturen mit ausreichend hoher Priorisierung statt.
OZG ist ein großes Dilemma in Deutschland, da es im Zeitalter des Internets Online Services vorschreibt und keine echte effektive Digitalisierung.
Das Wesen der Digitalisierung ist es, Prozesse zu digitalisieren. In der vorherrschenden Denkweise der meisten öffentlichen Strukturen und vor allem dem OZG steht jedoch die Digitalisierung des „Papiers“ im Fokus, was am Ende nur dazu führt, dass man eine Art ‚Bürokratie Online‘ erreicht, die im digitalen Umfeld niemand wirklich braucht. OZG ist ein großes Dilemma in Deutschland, da es im Zeitalter des Internets Online Services vorschreibt und keine echte effektive Digitalisierung. Somit werden enorme Mengen an Ressourcen für am Ende wenig zielführende Themen investiert, während für die wichtige und dringend erforderliche Digitalisierung keine Mittel mehr zur Verfügung stehen. Es ist mehr als bedauerlich für die gesamte (öffentliche) Digitalisierung in Deutschland, dass man dies bei Bund und Ländern entweder immer noch nicht erkannt hat oder gar systemisch ignoriert. Für Kommunen ist es auch besonders aufwendig, dass man den gleichen Vorgang digital und analog vorhalten muss. Besonders schwerwiegend dabei ist, wenn man aus den Fachbereichen die Information erhält, dass gerade die Online Angebote über OZG in der Verwaltung partiell mehr Aufwand in der Verwaltung generieren, als wenn die Bürger:innen direkt ins Amt kommen, was ein enormes strukturelles Manko ist.
VdZ: “Warum das OZG nicht zur Digitalisierung der Verwaltung und in eine Sackgasse der deutschen Digitalisierung führen wird”. Herr Bönig, unter diesem starken Titel haben Sie kürzlich eine Keynote gehalten. Was hat es mit dieser Sackgasse auf sich und wen betrifft sie?
Bönig: Betreffen wird es uns am Ende alle. Das Problem ist das OZG selbst. Es stehen dabei keine digitalen Services im Fokus, sondern streng genommen nur Online Angebote. Bürgerinnen und Bürger können damit online nur einen Antrag stellen. Das ist klassisch analoges Denken, welches zu keiner Reduzierung des Verwaltungsaufwandes führt, noch den Service für Bürger*innen vereinfacht.
Wir brauchen ein neues umfassendes digitales Denken, welches den Prozess als echten digitalen Service für unsere Kund:innen realisiert.
Wir digitalisieren dabei oft nur das ‚Papier‘, um digital dann quasi wieder den gleichen analogen Vorgang bzw. Prozess zu haben. Das Gravierende daran ist, dass durch das OZG die Ressourcen in Online Services gebunden und nicht für echte Digitalisierung eingesetzt werden, die für viele Bürger*innen deutlich bessere und weniger aufwendigere Services ermöglichen und dabei gleichzeitig auch die Verwaltung erheblich entlasten würde. Bürger*innen haben oft Schwierigkeiten, mit online verfügbaren Formularen umzugehen, wo sonst Sachbearbeiter:innen im Amt sie unterstützen.
Diese pflegen die Daten nach dem Online Antrag weiterhin in die Systeme ein, nur ohne Kundenkontakt. Andersherum diejenigen, die gewohnt sind, online zu arbeiten, empfinden diese Art der Digitalisierung als Rückschritt, im Vergleich zu den Angeboten von großen etablierten Anbietern am Markt. Es entsteht insgesamt ein enormer Aufwand für eine (Pseudo)Digitalisierung, die dann oft nicht von den Zielgruppen angenommen werden wird: Was bleibt, ist eine Sackgasse. Wenn wir heute z.B. einen echten digitalen Prozess abbilden würden, hätten Bürger und Bürgerinnen die notwendigen Unterlagen per einfachem Knopfdruck in einem Portal vollständig ausgefüllt zur Verfügung, da die notwendigen Daten der Verwaltung oft vorliegen. Aber bislang bieten wir leider nur eine Art Bürokratie Online an anstatt bürgerzentrierte digitale Services.
VdZ: Unter dem Titel “Digital MoveS” hat Stuttgart sei März 2019 eine Strategie für die Digitalisierung der Stadtverwaltung. Ein Ausblick: Was müssen die nächsten Schritte sein, damit die ‘Digitalisierung bewegt’, im Sinne dieser Strategie?
Bönig: Der große Effekt wird eintreten, wenn man anfängt die Prozesse (und nicht nur das Papier) zu digitalisieren. Das OZG verpflichtet bisher nur zu Angeboten von Onlineverfahren. Wenn wir bspw. einen digitalen Ende-zu-Ende-Prozess aufbauen, dann verschwindet dieser Prozess aus dem Rathaus und verlagert sich ins Rechenzentrum. Wo Sie gestern einen Sachbearbeiter oder eine Sachbearbeiterin vor Ort brauchten, brauchen sie morgen Businessdesigner:innen, Datendesigner:innen oder KI-Expert:innen.
Es wird auch noch zu wenig in die eigentliche Umsetzung investiert. Es werden hingegen immer noch mehr Beratungsangebote aufgebaut, statt Unterstützung für die Umsetzung digitaler Prozesse bereitzustellen.
In Stuttgart wollen wir jetzt Schritt für Schritt sukzessive interne wie auch externe Prozesse digitalisieren, wie dies im Markt bereits üblich und erfolgreich ist. Abhängig von den Ergebnissen und Erfahrungen, werden wir diesen Vorgang immer weiter optimieren und ausbauen. Wir reden hier nicht nur von einer Besprechung mit Videokonferenz, sondern davon, dass der Kontakt der Bürger und der Bürgerinnen mit seinem Anliegen und die Abwicklung und der gesamte Vorgang komplett auf dem Backend des Rechenzentrums läuft und nicht mehr (nur) im Amt.
Wir reden auch darüber, dass unser Angebot ein anderes sein muss. Nur eine Online-Beratung und dann aber Bürokratie Online über digitalisiertes Papier anzubieten, wird nicht gut funktionieren. Auch wenn die Prozesse digital abgewickelt werden (also ohne menschliche Mitwirkung), bleibt die Verantwortung für die Prozesse beim Fachbereich, der diese auch weiterhin steuern und verantworten muss.
VdZ: Einmal nachgehakt - Sie sagen, dass wir end-to-end Prozesse haben werden, aber das Amt weiterhin Zugriff benötigt. Wie funktioniert das?
Bönig: Ein digitaler Prozess gehört weiterhin dem zuständigen Amt bzw. Fachbereich und liegt vollständig in dessen Verantwortungsbereich, auch wenn die IT eine erhebliche Mitwirkung bei der Digitalisierung einbringt bzw. die technische Infrastruktur betreibt.
Prozesse müssen kontinuierlich ausgewertet und betreut bzw. optimiert werden. Die Ergebnisse der Abläufe und der Bedarf der Kund:innen bleiben am Ende identisch, dazwischen ändern sich die Modalitäten zwischen analog und digital jedoch erheblich.
Auch müssen wir die Bürger und die Bürgerin im digitalen Kontakt weiterhin dabei unterstützen wie auch aktiv informieren können. Der große Spagat der Zukunft wird daher sein, einen Prozess oder besser noch Service sowohl digital wie auch analog in guter bis sehr guter Qualität anzubieten.
Es entsteht insgesamt ein enormer Aufwand für eine (Pseudo)Digitalisierung, die dann oft nicht von den Zielgruppen angenommen werden wird: Was bleibt, ist eine Sackgasse.
VdZ: Das klingt nach dem bayerischen Konzept von Twins, digitale Zwillinge zu der analogen Kommune. Aber Ihr Fokus liegt darauf, dass es um ein prozessuales Verständnis geht?
Bönig: Die Digitale Welt hält viele völlig andere Möglichkeiten und neue Chancen für eine moderne Verwaltung oder Kommune bereit. Insbesondere, um es den Bürger:innen leichter und angenehmer zu machen. Ein Digitaler Zwilling einer Kommune darf nicht das Credo der Bürokratie Online vertreten, was Stand heute die Ausrichtung von OZG ist, sondern muss ganz andere Wege gehen.
Beispielsweise müssen Daten von den Bürger:innen nicht ständig neu eingegeben werden, wenn diese in der Verwaltung bereits vorliegen. Es ist ein Fehler ein quasidigitales System für Bürokratie online aufzubauen, anstatt in echte digitale und moderne Bürgerservices zu investieren. Wir brauchen dazu ein neues umfassendes weiterführendes Denken, welches den bisherigen analogen Prozess in Zukunft als echten digitalen Service für unsere Kund:innen versteht und auch so realisiert.