Lichtjahre entfernt
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„Wir sind Lichtjahre vom Optimum entfernt“

Dr. Hans-Joachim Popp über Qualitätsdefizite in der heutigen Software-Infrastruktur

Die digitale Transformation der Verwaltung ist unerlässlich für ein funktionierendes Wirtschaftsleben. Doch trotz der Werbung der großen Softwareanbieter kämpfen viele Unternehmen und öffentliche Stellen mit qualitativ mangelhaften IT-Infrastrukturen. Dr. Hans-Joachim Popp beleuchtet die tiefgreifenden Qualitätsprobleme und die daraus resultierenden Herausforderungen für Systemadministratoren in der heutigen Softwarelandschaft.

Verwaltung der Zukunft: Digitale Systeme sind essenziell für das gesamte Wirtschaftsleben. In letzter Zeit gibt es jedoch viele Diskussionen über Sicherheitsprobleme und überforderte Systemadministratoren. Angesichts der steigenden Personalknappheit stehen viele Unternehmen und öffentliche Stellen mit dem Rücken zur Wand. Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptursachen dafür?

Dr. Hans-Joachim Popp: Natürlich ist in vielen Unternehmen und insbesondere in der öffentlichen Verwaltung die Bedeutung einer durchgehend verfügbaren IT-Infrastruktur lange Zeit unterschätzt worden. Aber die Hauptursache liegt in der – gemessen an der Bedeutung – absolut nicht angemessenen Qualität der eingesetzten Softwareprodukte. Die meisten sind erheblich komplizierter und unzuverlässiger, als es beim heutigen Stand der Softwaretechnologie sein müsste.

VdZ: Die großen Anbieter werben jedoch mit hohen Verfügbarkeiten und einer leicht administrierbaren Systemlandschaft. Wie kommt es trotzdem zu diesem Qualitätsmangel?

Dr. Popp: Ja, das ist in der Tat verwunderlich. Wir blicken auf einen über Jahrzehnte von der Anbieterseite kontrollierten Markt. Selbst kleinere Provider haben es geschafft, eine sehr hohe Kundenbindung zu erzeugen. Weniger freundlich ausgedrückt, ist es der „Lock-In“, vor dem sich alle fürchten. Und mit dieser Marktbeherrschung hat die Anbieterseite schleichend auch die Deutungshoheit über den „technischen Stand“ übernommen. Wenn sie sagen können „fehlerfreie Software gibt es nicht“ und alle sich damit zufriedengeben, dann können sie damit auch die Haftungsfragen von sich fernhalten.

VdZ: Es gibt also tatsächlich fehlerfreie Software?

Dr. Popp: Natürlich gibt es keine fehlerfreie Software! Aber zwischen Fehlerfreiheit und dem, was wir heute haben, liegen ja Welten! Vor allem geht es um Kompatibilität, Betreibbarkeit und Ressourcennutzung.

Wenn Sie heute eine größere Anwendung, sagen wir ein Intranet oder einen E-Mail-Dienst betreiben, dann sind Sie als Administrator am laufenden Band mit komplexen Änderungen konfrontiert, sei es wegen täglicher Sicherheitsupdates oder auch wegen eines großen Versionssprungs, den Sie aber machen müssen, da der Anbieter einfach den Support für die ältere Version einstellt. Das Risiko dafür, dass es schiefgeht, tragen Sie als Anwenderunternehmen ganz allein. Administratoren geraten an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Junge Leute sind kaum noch dazu zu bewegen, in solche Jobs einzusteigen. Ein Teufelskreis.

VdZ: Aber ist es nicht so, dass solche Systeme nun einmal kompliziert sind?

Dr. Popp: Man kann um Zehnerpotenzen besser sein, wenn man in die Entwicklung investiert!

VdZ: Die Anbieter investieren hier also nicht zu viel, um preislich nicht hinter den Wettbewerb zurückzufallen?

Dr. Popp: Aus Anbietersicht absolut nachvollziehbar. Warum sollen sie die exzellente Marge belasten und bei den Investoren in Ungnade fallen. Aber volkswirtschaftlich ist das Ganze ein Wahnsinn! Denn auf jeden Entwickler kommen geschätzt 10-100 Systemadministratoren und manchmal Millionen Anwender, die vielfach ihre Zeit mit unverständlichen Fehlermeldungen und erratischem Systemverhalten verbringen. Diese Vergeudung von Zeit, Kraft und vor allem Nerven belastet die Wirtschaft völlig unnötig. Vor allem aber fehlen uns die belastbaren Mitarbeiter im Betrieb überall.

VdZ: Es gibt aber doch einen riesigen Markt von Dienstleistern, die Betrieb und Customizing unterstützen. Zählt dies nicht als Wirtschaftsfaktor?

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Es ist schon perfide, dass ein riesiger Markt von Dienstleistern genau davon lebt, dass die Systeme komplex und unsicher sind.

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Dr. Popp: Ja, aber sie haben keine echte Wertschöpfung. Sie tun Dinge, die nicht stattfinden müssten. Es ist schon perfide, dass ein riesiger Markt von Dienstleistern genau davon lebt, dass die Systeme komplex und unsicher sind. Dort sitzen auch vielfach Experten, die ihre Kunden bezüglich der IT-Strategie beraten. Sie sind vielfach über ihren „Partnerstatus“ von ein oder mehreren großen Softwareanbietern abhängig und sprechen niemals gegen die Fortsetzung eines ggf. komplexen Weges. Insbesondere neue Anbieter mit qualitativ hochwertigeren, aber leichter zu betreibenden Produkten werden so wirksam herausgehalten. Das ist fatal, wo wir ja versuchen, den Wettbewerb bewusst anzukurbeln!

VdZ: Ist es nicht erwartbar, dass komplexe Systeme auch hohen Aufwand im Betrieb hervorrufen? Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass dies auch besser ginge?

Dr. Popp: Schauen Sie, überall dort, wo der Anwender nicht die Chance hätte, selbst einzugreifen, klappen die Updates fehlerlos. Wenn Sie eine App auf Ihrem Mobiltelefon aktualisieren, dann kümmern Sie sich überhaupt nicht darum, ob Ihr Datenbestand noch korrekt ist. Auch wenn der Anbieter 1 Mrd. Kunden versorgt, klappt es tadellos. Warum? Ganz einfach: wenn es Fehler gäbe, könnte der Anwender absolut nichts tun. Der Ruf der Anwendung wäre in kürzester Zeit ruiniert.

Im Unternehmensumfeld haben wir die Einschränkungen akzeptiert. Das meine ich mit Deutungshoheit. Viele jüngere IT-Verantwortliche glauben, dies seien unverrückbare Randbedingungen. Dabei sind es Marketingaussagen, sozusagen „Narrative“.

VdZ: Was müsste geschehen, um in diesem Punkt weiterzukommen?

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Um einen echten Wettbewerb zu erreichen, müssen wir die Kompatibilität zwischen Konkurrenzprodukten erzwingen und die entsprechenden Normen von neutralen Gremien kontrollieren lassen.

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Dr. Popp: Die Top-Entscheider in den Unternehmen, vor allem aber in der Politik, müssen mehr darüber erfahren, was eigentlich möglich wäre. Und dann brauchen wir konkrete Gegenbeispiele, innovative neue Lösungen, die wir ganz bewusst einsetzen, um sie zur Reife zu bringen. Um einen echten Wettbewerb zu erreichen, müssen wir die Kompatibilität zwischen Konkurrenzprodukten erzwingen und die entsprechenden Normen von neutralen Gremien kontrollieren lassen. Wenn unnötig schlechte Produkte am Markt nicht mehr platzierbar sind und die Kunden abwandern, werden wir einen Qualitätssprung sehen. Aber bis dahin ist es natürlich noch ein langer Weg.

VdZ: Eventuell für viele zu lang. Gibt es noch alternative Wege?

Dr. Popp: Nein, ich sehe keinen anderen Weg. Und wie lange es dauert, ist letztlich irrelevant. Die Lage wird sich rapide verschlechtern, wenn wir nicht gegensteuern. Und die Personalknappheit zwingt uns zum schnellen Handeln.

VdZ: Die Hyperscaler versprechen ja sorgenfreie Infrastrukturen. Anwendungen sollen sicher und rund um die Uhr verfügbar sein. Dann würde sich doch auch die Personalknappheit erledigen?

Dr. Popp: Naja, auch da haben wir wieder haufenweise Marketingaussagen, die fachlich nicht ohne Weiteres zu bestätigen sind. So gibt es keinen Grund, zu glauben, dass ein E-Mail-Server in der Cloud sicherer sein sollte als ein selbst betriebener Server des gleichen Anbieters. Die aktuellen Ereignisse zeigen, dass Angriffe auf Cloudinfrastrukturen genauso möglich und zum Teil noch in viel größerem Maßstab stattfinden können. Wie sich gezeigt hat, sind solche Systeme auch nicht gegen Verfügbarkeitsprobleme immun. Im Gegenteil: Wenn ein Fehler eine Anwendung weltweit lahmlegen kann, dann deutet das eher auf Schwächen in der Architektur hin. Auch bei Weltmarktführern lässt sich das nicht ausschließen.

VdZ: Aber ein noch etwas unerfahrener Administrator in der kleinen Kommune hat doch sicher mehr Probleme, das System zu beherrschen?

Dr. Popp: Auf den ersten Blick ja, aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Der lokale Administrator „fliegt im gleichen Flugzeug“ mit. Sein Herz schlägt für die eigene Einrichtung. Bei einem Weltmarktführer ist keiner persönlich betroffen. Es gibt bisher keinerlei etablierte Haftungsregime, und wenn sich bei einem großen Anbieter etwas Schwerwiegendes ereignet, dann kann es passieren, dass selbst die bloße Auskunft über die Details des Ereignisses von der höchsten IT-Sicherheitsbehörde erst eingeklagt werden müssen. Das bringt mich schon zum Nachdenken!