Echte Bürgernähe herstellen - Teil 1
Warum partizipative Bürgerbeteiligung ein Mehrwert für bürgernahe Verwaltung ist
Dies ist Teil 1 einer zweiteiligen Serie zum Thema "Echte Bürgernähe herstellen". Während dieser Artikel sich mit den Potenzialen und Barrieren zur Bürgerbeteiligung befasst, liefert der zweite Teil Praxisbeispiele und Tipps zur erfolgreichen Umsetzung.
Die moderne Verwaltung findet sich in einem Umbruch wieder, in dem vor allem eine Forderung immer lauter wird: Mehr echte Bürgernähe. Aufgrund von traditionell verankerten bürokratischen Strukturen scheint dies jedoch oft hinderlich. Bürgernähe zeichnet sich eher als ein fernes Bild am Horizont ab und bleibt durch administrative Hürden nach wie vor erschwert. Festgefahrene Regelwerke, lange Wartezeiten und unübersichtliche Prozesse lassen Bürger:innen oftmals mit einem Gefühl der Entfremdung zurück. Eine Herangehensweise, um diesem Problem zu begegnen, rückt dabei immer wieder in den Fokus: Die partizipative Kraft der Bürgerbeteiligung.
Bürgerbeteiligung eröffnet eine bisher wenig beachtete Dimension der Interaktion zwischen öffentlicher Verwaltung und Gesellschaft. Durch die Einbindung der Bürgerschaft in Entscheidungsprozesse, die Gestaltung von Projekten und die gemeinsame Entwicklung von Lösungsansätzen verspricht diese Form der Partizipation nicht nur eine Stärkung der demokratischen Grundwerte, sondern auch eine nachhaltige Verbesserung der Bürgernähe sowie eine stärkere Identifikation von Bürger:innen mit ihrer Verwaltung.
Bei Bürgerbeteiligung geht es immer darum, Akteure einzubeziehen und das Gemeinwesen im besten Sinn so zu gestalten, dass es für alle lebenswerter ist.
– Matthias Schirmer
Doch welches Potenzial birgt diese Entwicklung in der Praxis tatsächlich? Und wie kann sie dazu beitragen, echte Bürgernähe herzustellen? Wie engagierte Beteiligung gelingt, welche Barrieren zu überwinden sind und welchen Mehrwert die öffentliche Verwaltung dadurch gewinnt, zeigt dieser Beitrag. Dabei konnte uns Matthias Schirmer, Projektkoordinator bei der “CivixX - Werkstatt für Zivilgesellschaft", wertvolle Impulse und Einschätzungen zum Thema mitgeben.
Warum es unserer Verwaltung an echter Bürgernähe fehlt
In den vermeintlich unendlichen Gängen deutscher Verwaltungsbehörden scheint echte Bürgernähe eine ferne Utopie zu sein. Trotz vieler Bemühungen, Transparenz und Teilhabe zu fördern, bleibt die Realität oft hinter den Erwartungen zurück und es kommt nur selten zum offenen Austausch mit der Bevölkerung.
Der aktuelle Status quo offenbart hier eine Reihe von Defiziten, die eine effektive Bürgernähe behindern. Die zweijährliche Lebenslagen Befragung des Statistischen Bundesamtes (2021) untersuchte hierzu die Perspektive der Bürger:innen und erfasste deren Zufriedenheit anhand verschiedener Faktoren behördlicher Dienstleistungen. Die Befragten waren grundsätzlich zufrieden mit ihren Behördenkontakten, konnten jedoch zusätzlich angeben, welche Schwierigkeiten es gab. Zu den offensichtlich genannten Problemen zählten langsame Reaktionszeiten, undurchsichtige Prozesse, bürokratische Verstrickungen und ein Mangel an verständlichen Informationen. All dies trägt zu einer Distanz zwischen Bürger:innen und Verwaltung bei.
Doch die Probleme gehen tiefer - und neben den offensichtlichen Schwierigkeiten treten weitere Faktoren auf. Dazu zählt die mangelnde Bürgerbeteiligung selbst. Oft fühlt sich die Bürgerschaft von komplexen Verfahren entmutigt oder sieht keinen Nutzen darin, sich aktiv einzubringen. Zudem trifft man häufig auf Entscheidungsträger:innen und Fachbereiche innerhalb der Verwaltung, die keinen Bezug zur Beteiligung haben oder darin keinen Mehrwert sehen. Die Prozesse in Verwaltungsbehörden sind oft so verflochten, dass eine Anpassung an moderne Forderungen der Bürger:innen für viele als eine mühsame und langwierige Aufgabe wahrgenommen wird. Ressourcenmangel und Zeitknappheit lassen keine Zeit für eine sinnvolle Umsetzung. Verantwortlichen fehlt es an Anreizen, Bürger:innen zu beteiligen, oder an Motivation, angemessene Wege zu mehr Bürgerbeteiligung zu erarbeiten und zu implementieren. Schirmer betont jedoch, dass Bürgernähe nicht nur Arbeit schafft. Initiatoren können von dem Aufwand auch enorm profitieren. Als Projektkoordinator bei der CivixX und Experte für Bürgerbeteiligung ist er in unterschiedlichen Projektfeldern aktiv, bei denen es immer um gesellschaftliche Entwicklungsthemen geht. Er sieht bürgerliche Beteiligung als große Chance für Kommunen.
Es braucht Zeit, es braucht personale Ressourcen und natürlich auch Geld, um solche Prozesse zu gestalten. Was dem aber am Ende entgegensteht, ist der deutliche Nutzen.
– Matthias Schirmer
Potenziale erkennen - Darum sollte man Bürger:innen beteiligen
Die Integration von Bürgerbeteiligung in kommunale Entscheidungsprozesse ist nicht nur eine Frage der demokratischen Mitbestimmung, sondern auch der Effektivität. Nach Schirmer mögen Fachplaner:innen zwar über reichlich Fachwissen verfügen, doch bleibt die Frage offen, ob ihre Ideen auch den realen und individuellen Bedürfnissen vor Ort entsprechen. Daher ist es unabdingbar, diejenigen einzubeziehen, die unmittelbar von den geplanten Maßnahmen betroffen sind.
Viele Verwaltungsmitarbeiter:innen befürchten jedoch, durch Bürgerbeteiligung an Einfluss zu verlieren. Die Angst, die Verwaltung würde unwesentlich werden, wenn Bürger:innen direkt mitentscheiden, ist jedoch unberechtigt. Die wichtigste Erkenntnis hierbei muss sein: Beteiligung ist immer nur Entscheidungsvorbereitung und nicht eine Entscheidungs - Vorwegnahme.
Insbesondere Deliberative und Dialogorientierte Bürgerbeteiligung sind wichtige Schlüsselwörter, die einen Weg aufzeigen, Bürger:innen partizipativ zu beteiligen, ohne die eigene Handlungsfähigkeit zu verlieren. Diese Methoden unterscheiden sich von klassischen formalen Beteiligungsverfahren wie Anhörungen oder Bürgerversammlungen, die noch durch ein sehr exklusives Teilnehmerfeld bestimmt werden.
Für Schirmer liegt der Mehrwert solcher Beteiligungsformate nicht nur in einem gesteigerten Gefühl der Wertschätzung seitens der Bürger:innen, sondern auch, um Erfahrungen der Selbstwirksamkeit anzukurbeln, und um Politikverdrossenheit entgegenzuwirken:
Die Menschen fühlen sich gesehen. Das ist eine wichtige innere Wirkung, die sich direkt rentiert.
– Matthias Schirmer
Wenn Menschen, die direkt von den jeweiligen Planungen betroffen sind, einbezogen oder befragt werden, steigert das sowohl die Qualität der Planung, als auch die Akzeptanz in der Bevölkerung, da eine Vertrauensbasis geschaffen wird. Dies stärkt wiederum die Wahrnehmung der öffentlichen Verwaltung als bürgernahe Institution.
Das größte Potential sehe ich tatsächlich darin, dass Menschen merken, dass sie nach ihrer Meinung gefragt werden und etwas mitbestimmen können, also dass ihre Meinung in irgendeiner Art und Weise zählt, hilfreich ist und als wichtig angesehen wird.
– Matthias Schirmer
Kommunen können von vielen Aspekten der Bürgerbeteiligung profitieren. Hier sind unsere Top 5 Gründe, warum bürgernahe Verwaltung und Beteiligung von Anfang an zusammengedacht werden sollten:
1. Mehr Akzeptanz, Verständnis und Zufriedenheit ermöglichen
Bürger:innen, die sich in kommunalen Projekten ausreichend wahrgenommen und vertreten fühlen, sind zufriedener mit ihrer Verwaltung, bauen Vertrauen auf und sind sogar bereit, für ihre Verwaltung einzustehen, um sie z.B. vor (online-) Angriffen zu verteidigen1. Dort, wo Informationen verständlich zur Verfügung gestellt werden, und ein menschlicher Kontakt entsteht, entsteht auch Vertrauen in die Institutionen sowie ein besseres Verständnis für die Möglichkeiten und Grenzen der Verwaltung. Bürgerbeteiligung stärkt damit die Verbindung und auch die Identifikation und gibt der Verwaltung ein Gesicht.
2. Von Verwaltungsseite Wertschätzung kommunizieren
Mit den Menschen planen statt über sie hinweg: Durch Beteiligungsverfahren zeigt die Verwaltung, dass sie ein offenes Ohr für Anregungen und Einwände aller Bürger:innen hat, was die Dialogfähigkeit und Wertschätzung für die Meinungen der Bürgerschaft unterstreicht. Dialogische Verfahren tragen somit auch dazu bei, die Verwaltung bürgernäher zu gestalten.
3. Schaffung eines Repräsentativen Querschnitts
Bei Anliegen, welche eine große Anzahl an Bürger:innen betreffen, ist es sinnvoll, eine möglichst große Bandbreite dieser mit einzubeziehen. Breite Beteiligung misst sich dabei nicht an der reinen Anzahl ihrer Mitwirkenden, sondern vielmehr daran, dass alle Facetten einer Gesellschaft möglichst gut vertreten sind. Mit inklusiven Formaten kann auch den leisen Stimmen Gehör verschafft werden, um diese zu aktivieren. Eine repräsentative Beteiligung stärkt die Interessenlage der gesamten Einwohnerschaft und stellt sicher, dass die Belange aller Bürger:innen im Blick sind.
4. Bürger:innen als lokale Experten
Die Menschen eines Stadtteils kennen ihr Quartier aus einer anderen Perspektive, sodass ihre Sichtweisen wertvolle Entscheidungshilfen und größere Nähe zum Planungsgegenstand ermöglichen. Je vielfältiger diese Quellen sind, desto präziser wird auch das Problemverständnis, und umso wirkungsvoller werden die Lösungsansätze. Mit Bürger:innen als Referent:innen für Sachverhalte lassen sich Stolperfallen frühzeitig erkennen und Planungsfehler vermeiden. Kommunalverwaltungen sind daher gut beraten, in einen Austausch mit den Bürger:innen zu treten und deren Expertise für die Zukunft ihres Standortes zu mobilisieren.
5. Wirksamkeit von Projekten erhöhen
Es ist nicht nötig, darüber zu spekulieren, was die Bürger:innen denken und wollen, wenn durch Beteiligungsformate ihre Präferenzen frühzeitig bekannt werden. Informierte Entscheidungen können getroffen werden, was wiederum zu einer stärkeren Zufriedenheit mit den kommunalen Entscheidungsträgern führt und zu einem höheren, langfristigen Engagement der Bevölkerung. Gemeinsames Planen verbessert dann nicht nur die Themen an sich, sondern vor allem die Qualität des Entscheidungsprozesses.
Beteiligung kann zu einer größeren Offenheit führen, zu einer größeren Kompetenz der Verwaltungs-Mitarbeitenden, zu einer größeren Identifikation der Bewohner:innen mit Ihrem Ort und den Themen, die dort verhandelt werden.
– Matthias Schirmer
Vorsicht Stolpersteine - Welche Barrieren überwunden werden müssen
Trotz Ihrer Potentiale ist die Partizipation der Bürgerschaft insgesamt noch keine fest etablierte Alltagskultur in der deutschen Verwaltung. Initiatoren können bei der Umsetzung auf nicht zu unterschätzende Herausforderungen stoßen. Nach Schirmer sind es insbesondere Zugangsbarrieren, sei es aufgrund von Erreichbarkeit, Sprache, Zeit oder Räumlichkeiten, die dazu führen können, dass Stimmen ungehört bleiben. Es ist wichtig, auch die Ursachen dieser Barrieren zu erfassen: Viele müssen sich um Kinder und Haushalt kümmern - dann sind Zeiten am Wochenende, an denen vielleicht die ganze Familie teilnehmen kann, oft sinnvoller als Abendtermine. Braucht es vielleicht eine Kinderbetreuung? Oder liegt es an sprachlichen Problemen? Dass Verwaltungs-Fachjargon für normale Bürger:innen sehr unverständlich werden kann, haben wir bereits in unserem Beitrag über Verwaltungskultur erörtert.
Die Wahl der richtigen Sprache, flexible Zeiten und barrierefreie Räumlichkeiten sind nur einige Aspekte, die berücksichtigt werden müssen, um eine inklusive Beteiligung zu gewährleisten. Klar ist: Es müssen Barrieren identifiziert und angegangen werden. Diese können aus persönlichen Vorbehalten der Bürger:innen, projektbezogenen Umständen oder Fehlerquellen der Initiatoren entstehen:
Barrieren auf Seite der Bürger:innen:
- Fehlende Ressourcen der Bürger:innen (Sprache, Bildung) ("Wie kann ich überhaupt beitragen?")
Lösung: Barrierefreiheit; Übersetzer/ mehrsprachige Paten; einfache Sprache - Misstrauen in die Verwaltung oder Motivationsprobleme ("Das ist ohnehin nicht ernst gemeint")
Lösung: Bereitschaft zum Dialog mit Bürger:innen zeigen; deren Expertise und Verbindung zum Thema herausstellen; Feedback-Runden; gemeinsame Spielregeln erörtern; Transparenz bezüglich des Beteiligungsprozesses sowie zum Umgang mit den Ergebnissen herstellen - Unklarheit über Ergebnisse oder Zweifel an der Methode ("Was soll dabei herauskommen?")
Lösung: Ansprechpartner:innen für Dialog; stetig über Prozess informieren; klare Benennung von Zielen, Handlungs - und Entscheidungsspielräumen; Medien (Plakate, Flyer, Social Media); Infostände und Veranstaltungen nutzen, Transparenz bezüglich des Prozesses herstellen - Unzufriedenheit mit Rahmenbedingungen
Lösung: mehrere Veranstaltungen zu unterschiedlichen Phasen anbieten; Ferien und Brückentage meiden; Flexible Online-Verfahren; Terminabfrage; neutrale und wechselnde Orte im unmittelbaren Umfeld
Barrieren auf Seite der Verwaltung:
- Fehlende Akzeptanz von Beteiligungsformaten
Lösung: Vorurteile abbauen (vor teuren, unrealistischen Ergebnissen); Vorteile bewerben; Mut zur Lücke: Lieber selten „gute“ Beteiligung, als oftmals „schlechte“ - Mangelnde Zielklarheit (Was wollen wir mit dem Projekt überhaupt erzielen?)
Lösung: Individuelle Zielsetzung und Stellenwert der Ergebnisse im Vorfeld festsetzen; Zeitplan setzen, Budget ermitteln; Änderungen begründen; klare Rahmensetzung, was mit dem Projekt erreicht werden soll und kann - Unsicherheiten bezüglich knapper Ressourcen (Budget; personeller Aufwand, externe Sachmittel)
Lösung: Bund-Länder-Programme wie „Nationale Stadtentwicklungspolitik“ (NSP), „Soziale Stadt“ oder zusätzliche Gelder aus Förderpraxis; die Vorteile der Prozesse herausstellen - Fehlende Kompetenz oder keine passenden Methoden für die Umsetzung
Lösung: an Best-Practice-Beispielen orientieren; externe Moderatoren; Erfahrungen mit „kleinen“ Formaten, ggf. intern sammeln; Austauschformate der Fachämter untereinander organisieren - Unkenntnis der Interessenlage und Distanz zur Zielgruppe (Wen wollen wir wie beteiligen?)
Lösung: Analyse der Betroffenheit/ räumlichen und sozialen Situation im Vorfeld; Vermittler; Aufsuchende Beteiligungsformate (Bürger dort aufsuchen, wo sie sind)
Es ist von entscheidender Bedeutung, diese Barrieren zu kennen, abzubauen und gar nicht erst entstehen zu lassen. Es kommt vor allem darauf an, vorausschauend zu planen, gut zu kommunizieren und die persönlichen Umstände der Bürger:innen zu berücksichtigen. Beteiligung darf nicht so gesteuert werden, dass nur der Weg der Entscheidungsträger:innen als der beste erscheint und sie wird auch nicht funktionieren, wenn sie erst dann als Möglichkeit eröffnet wird, nachdem das Wichtigste schon entschieden wurde.