Aktuell existieren in Deutschland 14 landesspezifische Vergabegesetze. Immer wieder werden die Rechtsrahmen der Länder auf den Prüfstand gestellt: Der bürokratische Aufwand hat auf Bieter- und Auftraggeberseite hohe Prozesskosten zur Folge, trotz Reformen und Durchführungsverordnungen bleibt ein größerer monetärer Effekt aus. Zugleich sollen Sozialstandards und Nachhaltigkeitskriterien in den Beschaffungsprozess eingearbeitet werden, ohne den Vergabeprozess weiter zu verkomplizieren. Wo bestehen die größten Herausforderungen für Anbieter und Beschaffer? Was muss sich an den Verfahren ändern, um die öffentliche Auftragsvergabe für beide Seiten einfacher zu gestalten?
Vergabefremde Kriterien - Herausforderung für kleine Unternehmen
Die Erfüllung vergabefremder Kriterien sei für kleine Unternehmen kaum umsetzbar, erklärt Hans-Joachim Wunderlich, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Chemnitz.
Die Anbieterseite fordert: Mess- und prüfbare Qualitätskriterien, mittelstandsfreundliche Regelungen im Unterschwellenbereich und angemessene Eigenleistungsanforderungen.
Beispielsweise die Nachhaltigkeit der Lieferketten sicherzustellen oder überhaupt erst einmal vollständig nachzuvollziehen wäre problematisch, auch eine Frauenquote wäre in manchen Sektoren nur schwierig darzustellen. Der studierte Maschinenbauer wünsche sich einen Fokus auf mess- und prüfbare Qualitätskriterien.
Der Umgang mit juristisch beugbaren Begriffen sei besonders für kleinere Unternehmen schwierig – im Oberschwellenbereich seien vergabefremde Kriterien durchaus umsetzbar. Im Unterschwellenbereich müsse man hier angemessene Regelungen finden. Wunderlich empfiehlt kleineren Unternehmen Arbeitsgemeinschaften zu bilden, einerseits um Schulungen und Weiterbildungen für Vergabeverfahren öffentlicher Aufträge durchzuführen und zu erhalten, andererseits um in Kooperation an Ausschreibungen teilzunehmen. Ohne einen Zusammenschluss wird bereits ein Großteil der Unternehmen durch die geforderten Eigenleistungsanforderungen als Anbieter rausgevotet. Auch hier könnten neue gesetzliche Regelungen, je nach Größe der Vergabe, den Mittelstand motivieren, häufiger an Ausschreibungen teilzunehmen.
Die Beschafferseite beklagt: ausbleibende Angebote, fehlender Wettbewerb, nicht gedeckte Bedarfe.
Ausbleiben von Angeboten bei anspruchsvollen Aufträgen
Das Ausbleiben von Angeboten und der fehlende Wettbewerb sind ein zunehmendes Problem der öffentlichen Vergabe. Besonders anspruchsvolle Beschaffungszweige haben damit zu kämpfen, so auch das Technische Hilfswerk. Dagmar Klus leitet das Referat Technik der Bundesanstalt. Mit einem jährlichen Budget von circa 50 Millionen Euro werden hier in enger Abstimmung mit dem Beschaffungsamt des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat Fahrzeuge, Geräte, Schutzausstattung sowie Einsatz- und Dienstkleidung für die Einsatzkräfte beschafft.
Die öffentliche Beschaffung braucht: ein einheitliches Berufsbild des Einkäufers, mehr Professionalisierung und qualifiziertes Personal.
Für die Anbieterseite scheinen die Aufträge oft zu kompliziert. Man müsse viel investieren, um den Bedarfsträger zufriedenzustellen, durch die hohen Qualitätsansprüche bleibt ein tatsächlicher Wettbewerb oft aus. Das Budget für qualitative Leistungen ist vorhanden, die leistungsfähigen Anbieter fehlen, die Bedarfe der Bundesanstalt können nicht ausreichend gedeckt werden.
Vereinheitlichung der Profession der Einkäufer
Referatsleiterin Klus sieht ein Problem im Bewerbungsprozess. Die Angebotseinreichung über das Online-Portal, Klus nennt es scherzhaft „obskure Internet-Plattform“, wäre für kleinere Unternehmen oft zu kompliziert. Des Weiteren kämen die sekundären Beschaffungskriterien im bestehenden Vergaberecht zu kurz. Hier müsse ein neues Bewusstsein geschaffen werden: Nachhaltigkeit hat ihren Preis.
Nicht nur in den Prozessen der Vergabeverfahren, auch personell, wünscht sich die Beschafferin eine Vereinheitlichung. Die Professionalisierung des gesamten Beschaffungsapparats müsse vorangetrieben werden und die Kompetenzen sich auch im Gehalt widerspiegeln. Die notwendigen Beschaffungsabwicklungen seien mit der aktuellen Qualität des Personals kaum abbildbar. Die fehlenden personellen Ressourcen und der ausbleibende Wettbewerb führen dazu, dass vorhandene Finanzmittel nicht auf die Straße gebracht werden können.
Diversität der Vergaberechte verkomplizieren Auftragsvergabe
Lars Wiedemann, Geschäftsführer des Auftragsberatungsstelle Mecklenburg-Vorpommern e.V., berät Unternehmen und öffentliche Auftraggeber rund um das Vergaberecht. Der Wirtschaftsjurist beobachtet immer wieder das Phänomen, dass Beschaffungsstellen nicht bundesweit ausschreiben. Man habe Angst vor nicht-regionalen Angeboten, obwohl die Unternehmen aufgrund der Lage nicht so günstig anbieten können, wie die lokale Wirtschaft. Den lokalen Anbietern sei das Vergabeverfahren zu umständlich.
Wenn man die Vergaberechtsstruktur in einen Umkreis von 100 Kilometern betrachte, wird der Anbieter Oft mit bis zu drei verschiedenen Vergaberechten konfrontiert. Allein in der Direktvergabe gibt es große Unterschiede: in Mecklenburg-Vorpommern kann man bis zu einem Auftragsvolumen von bis zu 5000 Euro eine Direktvergabe durchführen, in Bremen nur bis zu 1000 Euro. Für Anbieter sei bereits das Verständnis für ein Vergaberecht schwierig, wenn das Nachbarland dann ganz unterschiedliche Regelungen verfolgt, bleibt das Angebot oft aus. Die von Wunderlich aufgeführten Arbeitsgemeinschaften kämen in der Praxis leider nur selten zu Stande, klagt Wiedemann. Oft würden diese Zusammenschlüsse schon an der Wurzel scheitern, da die Unternehmen zu spät an Beratungsstellen herantreten.
Wir haben eine Marktverzerrung. Anbieter, die soziale und Nachhaltigkeitskriterien missachten, haben einen Wettbewerbsvorteil im Preis.
Marktverzerrung durch nicht nachhaltige Produkte
Nicht nur Anbieter, auch kleine Beschaffungsstellen sollen externe Hilfe beanspruchen, sollten das eigene Personal den hohen Anforderungen nicht gewachsen sein. Nora Böhme unterstützt die Beschaffungsstelle der Stadt Halle(Saale). Die Koordinatorin für kommunale Entwicklungspolitik ist Expertin für nachhaltige Produkte und überprüft für die Stadt sensible Produktgruppen wie Textilien, Naturstein und Informationstechnologie.
„Wir haben eine Marktverzerrung. Anbieter, die soziale und Nachhaltigkeitskriterien missachten, haben einen Wettbewerbsvorteil im Preis.“ Daher recherchiert Böhme für die jeweiligen Bedarfe nach nachhaltigen Anbietern und verankert die sekundären Beschaffungskriterien in der Leistungsbeschreibung oder arbeitet mit Zuschlagskriterien. Der Einkauf habe eine Zukunftsaufgabe und könne über seine Kriterien die Marktentwicklung beeinflussen. Damit alle Beschaffungsstellen nachhaltig und sozial gerecht beschaffen, fordert Böhme einen internationalen Standard für menschenrechtliche Bedingungen in der Lieferkette. Diese sollen nachhaltigen Anbietern wieder einen Vorteil verschaffen.
Ein Blick ins Ausland: Vergaberecht in der Schweiz
Jeder Kanton in der Schweiz hat ein eigenes Vergaberecht, auch der kleinste Kanton mit grade einmal 15.000 Einwohner. Mit Blick nach Österreich hatte die Schweiz ebenfalls das Bestreben Bürokratie abzubauen und das Vergaberecht zu vereinheitlichen. Ein einziges Vergaberecht konnte die Schweiz nicht umsetzen, jedoch ein einheitliches: „Die Kantons wollte keine Befugnisse abgeben, daher bleibt es bei mehreren Gesetzen. Diese sind aber textgleich“, erklärt Marc Steiner, Richter am Bundesverwaltungsgericht der Schweiz.
Auch in der Schweiz können kleine Kommunen professionalisierte, innovationsfördernde, nachhaltige Beschaffung nach sozialen Kriterien kaum selbst aufbringen. Daher haben sich Einkaufszweckverbände etabliert, welche die Bedarfe und das Personal der Kommunen bündeln. Als nächsten Schritt sieht Steiner die Institutionalisierung der Beratungen, um ein Professionalisierungsniveau in der Beschaffung zu halten. Der Trend müsse in der Vergabe klar zu einer Zentralisierung und einer Harmonisierung gehen. Des Weiteren könne auch der Einkauf einem Wandel in der Betriebskultur nicht entgehen. Es braucht eine Fehlerkultur – Verantwortung und die Bereitschaft gemachte Fehler zu kommunizieren dürfe nicht bestraft werden.
Unabhängig von gesetzlichen Änderungen und Reformen müsse es einen Paradigmenwechsel im Einkauf geben, so Steiner. In der Schweiz haben diesen die Anbieterverbände der Bauindustrie angestoßen, welche die öffentliche Beschaffung anhielten, Qualität und Nachhaltigkeit höher als den Preis zu gewichten. Dieses Verständnis und der politische Rückhalt für die Einkäufer müsse durchdringen, um die angesprochene Marktverzerrung zu verhindern und die strategischen Ziele der Beschaffung zu erreichen.