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Alle Jahre wieder: Reformwünsche für Art. 346 AEUV

Forderungen auf der Digitalministerkonferenz Berlin 2024

Alle Jahre wieder entflammt sie neu, die Diskussion um die Sachgerechtigkeit und Zeitgemäßheit der im Bereich von Verteidigung und Sicherheit wohl bekanntesten Ausnahmebestimmung: Art. 346 AEUV, die über den Verweis in § 107 Abs. 2 GWB für das deutsche Vergaberecht gilt. Diese Bereichsausnahme erteilt dem öffentlichen Auftraggeber zum Schutz der wesentlichen Sicherheitsinteressen Deutschlands einen vollständigen Dispens vom vielerorts so unbeliebten Vergaberecht.

Öffentliche Aufträge, durch die der Auftraggeber zur Preisgabe wesentlicher Sicherheitsinteressen gezwungen wäre, sind ebenso ganzheitlich vom Anwendungsbereich des formalen Vergaberechts ausgenommen wie Aufträge zur Beschaffung von Kriegsmaterial und Rüstungsgütern. Allerdings müssen die Tatbestandsvoraussetzungen der Ausnahmevorschrift kumulativ erfüllt sein und – wie für alle Ausnahmebestimmungen typisch – restriktiv ausgelegt werden, um die europäische Grundentscheidung für mehr Wettbewerb bei Militär- und Sicherheitsbeschaffungen nicht zu unterlaufen und das Hoflieferantentum auf diese Weise wiederaufblühen zu lassen.

Mit Erlass der Vorschrift hat der Europäische Gesetzgeber für die EU-Mitgliedstaaten zwar eine absolut wirkende Ausnahme geschaffen, die im jeweiligen Einzelfall den Verzicht auf die Durchführung eines Vergabeverfahrens rechtfertigen und den Souveränitäts- und Verteidigungsinteressen Deutschlands Rechnung tragen kann. Doch ist die Norm angesichts ihrer hohen tatbestandlichen Hürden und interpretationsbedürftigen Rechtsbegriffe nicht geeignet, um der in höchstem Maße bedrohlichen Sicherheitslage Deutschlands gerecht zu werden und hochsensible Beschaffungen schnell und angemessen abzuwickeln.

Die Digitalministerkonferenz 2024

Im Zuge der 2. Digitalministerkonferenz („DMK“) in Berlin wurde Art. 346 (Abs. 1 lit. b)) AEUV einmal mehr diskutiert und seine Reichweite und Tatbestandsvoraussetzungen insbesondere vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren mit Blick auf die fortschreitende Digitalisierung grundlegend geänderten und besorgniserregenden Sicherheits- und Bedrohungslage kritisch hinterfragt.

Die DMK, bestehend aus den Digitalministerinnen und -ministern der Länder, agiert als Bündelungs- und Koordinierungsstelle der Digitalisierung in Deutschland. Sie dient als Plattform für den Austausch und die digitalpolitische Zusammenarbeit der Länder, um sich unter anderem gegenüber Bund und EU zu positionieren. Dabei ergänzt die DMK die bereits bestehenden Digitalisierungsgremien von Bund und Ländern, insbesondere den IT-Planungsrat, ohne dessen Zuständigkeiten zu berühren.

Art. 346 AEUV: auf veraltete Sicherheitslage zugeschnitten

Das Hauptaugenmerk der zweiten DMK-Tagung im Oktober 2024 galt den Reformwünschen im Hinblick auf Art. 346 AEUV, der i.V.m. § 107 Abs. 2 GWB eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe enthält. Die „wesentlichen Sicherheitsinteressen“ reihen sich an interpretationsbedürftige Formulierungen wie „seines Erachtens“ und die Direktive der Verhältnismäßigkeit / Erforderlichkeit, die beim Rechtsanwender naturgemäß Fragen aufwirft. In Ansehung der hohen Auslegungsfähigkeit der Norm bei gleichzeitig proklamierter Interpretationsstrenge wurde in den letzten Jahren vielfach der Ruf nach einer Reform laut, um die vom „alten“ Sicherheitsverständnis geprägte und neuere Bedrohungslagen offensichtlich nicht erfassende Vorschrift zu überarbeiten.

Diese Kritik ist berechtigt, scheint die Norm zum Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen am Ende doch nahezu ausgehebelt und auf zu wenige Ausnahmefälle begrenzt zu sein. Zwar hat der nationale Gesetzgeber die „wesentlichen Sicherheitsinteressen“ legaldefiniert und den schwer zugänglichen Begriff der verteidigungsindustriellen Schlüsseltechnologien eingeführt. Mit Veröffentlichung der jüngsten Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie am 4. Dezember 2024 hat das Bundesministerium der Verteidigung die Schlüsseltechnologien weiter präzisiert und u. a. um unbemannte Systeme, Quanten- und Raumfahrttechnologien ergänzt. Allerdings betrifft diese Auslegungshilfe weiterhin allein das Verständnis der wesentlichen Sicherheitsinteressen und unter welchen Umständen diese betroffen sein können.

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Angesichts der fortschreitenden Digitalisierung in Deutschland und den anderen EU-Mitgliedstaaten müsse Art. 346 AEUV [...] so erweitert werden, dass Leistungen im Bereich der Cyber- und Informationssicherheit zukünftig miterfasst sind.

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Angesichts der fortschreitenden Digitalisierung in Deutschland und den anderen EU-Mitgliedstaaten müsse Art. 346 AEUV auf Initiative der Bundesregierung – so die Forderung im zusammenfassenden Beschluss der 2. DMK vom 18. Oktober 2024 – so erweitert werden, dass Leistungen im Bereich der Cyber- und Informationssicherheit zukünftig miterfasst sind. Insbesondere müsse im Bereich der Cyber- und Informationssicherheit die Bereichsausnahme des Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV (Beschaffung von Kriegsmaterial) durchgreifen, um „Beschaffungen zur Härtung der Cyber- und Informationssicherheit“, die wesentliche Sicherheitsinteressen Deutschlands betreffen, zukünftig gänzlich vergaberechtsfrei abwickeln zu können.

Der wegen der zunehmenden Digitalisierung längst überfällige Änderungsbedarf des Art. 346 AEUV werde noch deutlicher bei einem Blick auf die Liste derjenigen Güter, für die Artikel 346 Abs. 1 lit. b) AEUV gemäß Art. 346 Abs. 2 AEUV gilt. Diese seit ihrer Einführung im Jahr 1958 geschaffene und technisch als überaltet anzusehende Kriegsgüterliste umfasst konventionelle, nukleare, biologische und chemische Waffen, aber lässt wichtiges modernes Kriegsmaterial außen vor. Aus diesem Grund regt die DMK an, den Verweis auf die Kriegsgüterliste, d. h. Art. 346 Abs. 2 AEUV zu streichen, Beschaffungen zur Cyber- und Informationssicherheit explizit in den Wortlaut des Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV aufzunehmen und die Norm insgesamt wie folgt zu ändern:

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Die Vorschriften der Verträge stehen folgenden Bestimmungen nicht entgegen:

a) Ein Mitgliedstaat ist nicht verpflichtet, Auskünfte zu erteilen, deren Preisgabe seines Erachtens seinen wesentlichen Sicherheitsinteressen widerspricht;

b) jeder Mitgliedstaat kann die Maßnahmen ergreifen, die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit sie insbesondere die Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit oder die Cyber- und Informationssicherheit betreffen; diese Maßnahmen dürfen auf dem Binnenmarkt die Wettbewerbsbedingungen hinsichtlich der nicht eigens für vorgenannte Zwecke bestimmten Waren nicht beeinträchtigen.

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Vereinfachung und Beschleunigung der Vergabe von Cyber- und Informationssicherheitsleistungen

Darüber hinaus fordert die DMK die Bundesregierung dazu auf, Änderungen an der Verteidigungsvergabe RL 2009/81/EG zu erwirken, sodass die Beschaffung von Leistungen der Cyber- und Informationssicherheit dem spezifischen Vergaberecht im Bereich von Verteidigung und Sicherheit, nicht aber dem allgemeinen Vergaberechtsregime unterfällt. Schließlich solle geprüft werden, wie das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen geändert werden kann, um entsprechende Beschaffungen zu beschleunigen.

Bewertung

Die Forderungen im Beschluss der DMK dürften keine Bindungswirkung nach außen entfalten, setzen aber ein politisches Signal, das die Bundesregierung allenfalls teilweise zum Tätigwerden veranlasst zu haben scheint. Im Wesentlichen erschöpft sich die neue Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie vom 4. Dezember 2024 in der Erkenntnis, dass sicherheits- und verteidigungsindustrielle Kernfähigkeiten und Kapazitäten (Schlüsseltechnologien) zur Aufrechterhaltung und Stärkung der strategischen Souveränität sowie Handlungsfähigkeit Deutschlands vorgehalten werden und im Interesse von Innovationen agile und schnelle Beschaffungsprozesse (u. a. für die Streitkräfte) etabliert werden müssen. Die Bundesregierung will „im Rahmen der Vergaberechtsnovelle die Vereinfachung, Professionalisierung, Digitalisierung, Innovationsförderung und Beschleunigung des Vergabeverfahrens umfassend berücksichtigen“ und sich für „Vereinfachungen des EU-Vergaberechts für Güter und Dienstleistungen“ einsetzen. Ob und welche Maßnahmen aber tatsächlich folgen werden, ist für den Augenblick nicht mehr als vergaberechtliche Glaskugeldeuterei.

Es bleibt dabei: Art. 346 AEUV in seiner derzeitigen Fassung wird den neuen Bedrohungslagen und modernen Formen der Kriegsführung nicht gerecht, sodass der an die deutsche Regierung gerichtete Vorschlag zur Hinwirkung auf eine Streichung des Art. 346 Abs. 2 AEUV ebenso wie die tatbestandliche Präzisierung der Ausnahmevorschrift nachvollziehbar ist. Inwieweit der zuständige europäische Normengeber eine entsprechende Initiative überhaupt annehmen oder umsetzen würde, steht auf einem gänzlich anderen Blatt, zumal die Kriegsgüterliste seit 1958 unverändert fortbesteht.

Mit Ausnahme der jüngeren Verteidigungsvergaberichtlinie ist das europäische Vergaberecht nun seit einer Dekade in Kraft, weshalb die EU-Kommission die Vergaberichtlinien 2014/23/EU, 2014/24/EU und 2014/25/EU aktuell evaluiert. Vor diesem Hintergrund bleibt offen, ob, wann und in welcher Form die von der DMK gewünschten ambitionierten Änderungen Eingang in die europäische und sodann qua Umsetzung in die deutsche Rechtsordnung finden werden. Bis dahin sind bei der Beschaffung von Leistungen der Cyber- und Informationssicherheit die (geringen) Spielräume durch eine mutige Auslegung des Art. 346 AEUV und der vergaberechtlichen Normen zu nutzen.