Verwaltung der Zukunft: Sehr geehrter Herr Arnold de Almeida, Oliver Wyman hat einen höchst spannenden Griff gewagt und das Jubiläum des großen Machers der preußischen Reformen zum Anlass genommen für die Suche, wenn man das sagen darf, nach dem heutigen Hardenberg. Brauchen wir jetzt eine Kristallisationsfigur, um die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung zu bewältigen?
Arnold de Almeida: Wir brauchen nicht eine einzige Kristallisationsfigur, sondern ganz viele Führungspersönlichkeiten, die in unserer heutigen Zeit ähnliche Fähigkeiten verkörpern, wie der historische Hardenberg seinerzeit: langfristiges, strategisches Denken, die Fähigkeit, große Transformationen voranzutreiben und komplexe Systeme zu steuern. Wir denken, dass viele Führungskräfte in der öffentlichen Verwaltung diese Fähigkeiten besitzen oder herausbilden können und dass sie ihr Potenzial, selbst die Transformation der öffentlichen Verwaltung zu gestalten, noch besser ausschöpfen können. Wir alle kennen das berühmte Werk “Reinventing Government” von Osborne und Gaebler, dass vor 25 Jahren erschienen ist und das so etwas wie eine im besten Sinne unternehmerische Gestaltung in der öffentlichen Verwaltung postulierte. Diese Möglichkeit haben wir in Deutschland nur teilweise ausgeschöpft, weil wir das mit Neoliberalismus verwechselt haben. Uns geht es also nicht darum, den historischen Hardenberg zu ehren, sondern sein historisches Beispiel auf die Gesetzmäßigkeiten unserer Zeit, des digitalen Zeitalters, zu adaptieren. Das ist unserer Meinung nach eine Inspirationsquelle für Tausende von Führungskräften und nicht nur für eine Person, die sich in hoher formaler Autorität befindet, so wie Hardenberg als Staatskanzler.
VdZ: Das Hardenberg Projekt beinhaltet eine Reihe von Formaten: Dialoge, Fellowships und ist selbst eine Art Think Tank? Warum braucht es eigentlich dieses Projekt und was wird uns ab jetzt erwarten?
Arnold de Almeida: Wenn wir Verwaltungsmodernisierung ernst meinen, dann dürfen wir nicht nur darauf warten, dass beispielsweise das Grundgesetz geändert wird und die Föderalismusreform III kommt - oder das kameralistische Haushaltsrecht komplett überarbeitet wird oder eine umfassende Dienstrechtsreform kommt. Die Reformwerke, die wir uns in Deutschland ausdenken, sind so groß und komplex, dass sie beinahe unerreichbar werden. Stattdessen sollten wir alle uns fragen, in unserer jeweiligen Rolle, was wir schon heute tun können, um unserer Gestaltungsspielräume besser auszuschöpfen. Wir als Strategieberaterinnen und -berater können auch einen Beitrag dazu leisten. Und wir bei Oliver Wyman hoffen, dass auch das Hardenberg-Projekt ein Leistungsbeitrag für die Gesellschaft sein wird. Das Projekt ist von vorneherein als offene Innovationsplattform gestaltet: Wir sind sehr offen für Partner und Partnerinnen aus anderen Bereichen – wir freuen uns auf Co-Creation. Deswegen haben wir auch kein fertiges Projekt mit sehr vielen Modulen verkündet, sondern ganz bewusst erstmal mit einem Zweischritt begonnen. Das eine ist die Konzeption eines Netzwerks der Hardenbergs von heute und das andere ist der Hardenberg-Dialog, mit dem wir den 200. Todestag des Staatskanzlers gewürdigt haben. Hier diskutierte unsere frühere Bundesministerin Brigitte Zypries mit unserem Deutschlandchef Dr. Kai Bender über die Reform von Staat und Verwaltung. Weitere Module können und sollen entstehen, wir haben dazu sehr viele Ideen, aber welche davon realisiert werden, wird sich erst im Laufe von 2023 herauskristallisieren. Während wir das Netzwerk aufbauen, arbeiten wir an einem Modul, das wir schon benennen können: ein Hardenberg-Report, eine Studie über die Lage und die Zukunft des öffentlichen Dienstes. Da sehen wir eine Leerstelle, eine Lücke bei den empirischen Daten, die es erschwert, Weichen für die strategische Weiterentwicklung des öffentlichen Dienstes zu stellen. Wir möchten Impulse setzen und andere Verantwortungsträger aus dem öffentlichen Dienst und auch Menschen, die von außen Wissen an den öffentlichen Dienst herantragen, zusammenbringen und gemeinsam diese Lücken schließen. Aber das Hardenberg Projekt ist in seiner jetzigen Entstehungsphase noch keine rechtliche Organisationsform und insofern auch noch kein Think Tank.
Jede Person, die eine bestimmte formale Führungsverantwortung trägt, kann diese Führungsverantwortung gestaltend transformativ einsetzen.
VdZ: Im Rahmen des Hardenberg Projekts sollen auch Fellows ausgezeichnet werden, die “Inseln des Fortschritts” innerhalb der öffentlichen Verwaltung aufgebaut haben. Welche Kriterien nutzen Sie, um diese Inselmacher zu finden?
Arnold de Almeida: Es ist noch offen, ob das Hardenberg Projekt die Form eines Fellowship bekommen wird. Ebenso ist noch offen, ob eines der künftigen Module des Hardenberg-Projektes wirklich eine Auszeichnung sein wird, etwa ein Hardenberg-Preis. Danach wurden wir oft gefragt und das würde sich anbieten, denn neben der erwähnten empirischen Studie zum öffentlichen Dienst mangelt es auch an anerkannten, weithin sichtbaren Auszeichnungen für Bestleistungen im öffentlichen Dienst oder für Transformationsleistungen in der öffentlichen Verwaltung. Das wäre ein schöner Beitrag zur Anerkennungskultur in der öffentlichen Verwaltung und zum Teamgeist oder Stolz auf den Staatsdienst. Wir freuen uns hierzu auf Meinungen und Anregungen unserer Dialogpartnerinnen und -partner in der öffentlichen Verwaltung selbst, aber auch aus den Medien und der Wissenschaft.
Wir tasten uns an so etwas wie ein Idealprofil eines Hardenbergs von heute heran. Man könnte auch von einem Kompetenzmodell sprechen. Hierzu haben wir einen Workshop mit 15 Persönlichkeiten durchgeführt, die uns Input und zusätzliche Orientierung gegeben haben, wie diese künftigen Hardenbergs aussehen könnten.
Ich erwähne kurz einige wünschenswerte Schlaglichter, die einen Hardenberg von heute ausmachen:
- Breite berufliche Erfahrung, also interdisziplinäre, internationale Erfahrung oder Erfahrung mit unterschiedlichen Dienstherren.
- Die Fähigkeiten müssen ebenfalls breit sein, weit über verwaltungsjuristische Kenntnisse hinausgehen, moderne Managementfähigkeiten, analytische und strategische Fähigkeiten einschließen und insbesondere Kompetenz im Bereich Kommunikation aufweisen.
- Ein Führungsstil mit hoher emotionaler Intelligenz und Empathie sowie der Fähigkeit auf Augenhöhe zu führen, aus der Mitte zu führen und Mitarbeiter zu entwickeln.
- Die Fähigkeit, langfristige, strategische Ziele zu formulieren, Konsens darüber zu bilden und entsprechende Wirkungsziele zu erreichen.
Das könnte im nächsten Schritt in ein Kompetenzmodell münden. Darin denken wir, dass vor allem drei Kompetenzfelder gestärkt werden müssten:
- Strategiefähigkeit
- Wirkungsorientierung mit evidenzbasierten Entscheidungen
- Leadership nach innen und außen, und zwar modernes Leadership im Sinne von Adaption und systemischer Transformation
Diese Kompetenzfelder sind in der heutigen Personalstrategie vergleichsweise gering ausgeprägt. Auch da freuen wir uns auf den Dialog mit Partnerinnen und Partnern aus der Verwaltungspraxis, Wissenschaft und Beratungswelt.
VdZ: Aus Inseln des Fortschritts müssen dennoch feste, ressortübergreifende Strukturen entstehen, die dem gerecht werden, wofür von Hardenberg steht. Wie glauben Sie, dass wir durch das Fellowship-Programm zu dem gelangen, was wir von Hardenberg zuschreiben: eine maßgebende und richtungsweisende Reform?
Arnold de Almeida: Auch hier ist Bescheidenheit angesagt. Wir von Oliver Wyman nehmen uns nicht vor, dass wir die Hardenbergs von heute schaffen. Wir würden uns freuen, wenn wir mithelfen, sie zu entdecken, zu unterstützen, zu vernetzen und auch weiterzuentwickeln. Die Inseln des Fortschritts schaffen wir nicht, aber es gibt sie schon. Die Leaderpersönlichkeiten, die heute schon die Fähigkeiten oder Charakterzüge von Hardenberg zeigen, wollen wir finden, würdigen und fördern. Damit wir auch in Zukunft eine wirkungsvolle Verwaltung haben, eine Verwaltung, die auch schwierigste Herausforderungen aus Sicht der Bevölkerung meistert, die nicht in Zweifel gezogen wird, die ähnlich hohe Servicestandards erreicht, wie es die Bevölkerung in anderen gesellschaftlichen Bereichen gewohnt ist: eine öffentliche Verwaltung, die die Legitimität und Zukunftsfähigkeit der Demokratie erhält. Alles das bedeutet für uns, die Inseln des Fortschritts zu verbinden.
Einzelne Führungskräfte, die wir suchen, die wirklich transformative Leaders sind, nehmen sehr viel Verantwortung auf sich, da sie nicht nur die Pflicht und Vorschriften des Dienstherrn auszuführen, sondern sie nehmen für sich selbst in Anspruch, die Dienstherren hervorragend zu beraten und auch zur Transformation anzutreiben. Damit gehen sie viel größere Risiken ein als andere Führungskräfte, die Risiken vermeiden und nur ausführen, was andere ihnen auftragen. Das ist eigentlich das klassische Bild des preußischen Beamten, das wir haben. Hardenberg selbst hat aber regelmäßig dieses Bild gesprengt, indem er auch seinen Monarchen zu Reformen angespornt hat. Und das meinen wir mit Inseln des Fortschritts, das gilt es zu entdecken und zu stärken. Jemand, der sich so verhält, braucht Unterstützung, braucht Bestärkung, braucht Supportstrukturen. Diese werden nicht automatisch zur Verfügung gestellt, nicht jeder Dienstherr ist so vorausschauend, diese Art von Ambition und Führungsverhalten zu fördern und zu schützen.
VdZ: Am 25. November 2022 fand der erste Hardenberg-Dialog mit Brigitte Zypries, Bundesministerin a.D., statt, bei dem die Umsetzung von - noch ausstehenden - Reformen das Thema war. Gibt es ein Fazit oder schon erste erkennbare Erfolge durch das Projekt?
Arnold de Almeida: Der erste Hardenberg-Dialog war sehr spannend und hat im Netz viel Zuspruch gefunden.
Ich habe folgende Erkenntnisse daraus gezogen: Der Anspruch und die Fähigkeit, große Transformationsprogramme zu managen, ist in Deutschland weniger ausgeprägt als in anderen Ländern, wie in Frankreich oder dem Vereinigten Königreich. Diese Fähigkeiten müssen wir dringend aufbauen, denn wir sehen ja beispielweise an den großen Reformprogrammen, die unsere Regierungen verkünden, dass regelmäßig die Ziele nicht erreicht werden. Das ist ein sehr großes Problem, weil es die Glaubwürdigkeit des Staates und der öffentlichen Verwaltung gefährdet. Wenn die Glaubwürdigkeit geringer wird, sinkt auch das Vertrauen in den Staat und in unsere Demokratie. Dieser Dialog hat vor dem Hintergrund unserer zeitgenössischen geopolitischen Kulisse stattgefunden.
Die wichtigsten Zutaten für die Fähigkeit, große Transformationen zu managen sind aus meiner Sicht:
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Evidenzbasiertes Handeln - wofür z.B. der verstorbene Ministerpräsident Biedenkopf Zeit seines Lebens gekämpft hat.
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Modernes Führungsverständnis, adaptive Führung, also Führung, die ganze Systeme zum Besseren verändern kann.
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Wirkungsorientierung - etwas, das, wenn wir selbstkritisch sind, ebenfalls in unserem Staatsapparat unterentwickelt ist.
Wir konstatieren zum Beispiel, dass der Bund die Verfassungsebene ist, die bis heute am kameralistischen Haushaltswesen festhält, obwohl Kommunen und mehrere Bundesländer sich schon weiterentwickelt haben. Obwohl Frankreich seit über 20 Jahren ein völlig neues Haushaltssystem mit klarem Wirkungsziel entwickelt hat und verfolgt. Diese Wirkungsorientierung, die Überprüfung, ob neben dem erfolgreichen Haushaltsvollzug auch Veränderungsziele erreicht wurden, fehlt häufig. Deshalb erleben wir Probleme wie beim Digitalpakt Schule. Dort hat man sogar verfassungsrechtliche Weichen gestellt, um mit Haushaltsmitteln digitale Endgeräte in die Schulen zu bringen - immerhin über 25 Jahre nach Gründung der ursprünglichen Initiative Schulen ans Netz. Wir haben gesehen, wie langsam der Mittelabfluss war und wie beschränkt die Wirkung dieser Reform wieder einmal geblieben ist. Insgesamt kommen wir nun fast auf 30 Jahre, also eine ganze Generation, unzureichender Reform des Bildungswesens, nicht nur in digitaler Hinsicht. Erst das Scheinwerferlicht einer Krise, wie der Pandemie oder der Flut machte solche Reformlücken schonungslos sichtbar.
Ohne erhobenen Zeigefinger müssen wir sagen, dass Reformen, die über so lange Zeiträume nicht die Wirkungen erzielen, die gesellschaftlich und politisch gewünscht sind, uns nicht zufriedenstellen können. Im Gegenteil, sie sollten uns herausfordern und unsere Ambition wecken, es endlich besser zu machen.
Wir denken, dass selbst das heutige Haushalts- und Dienstrecht, das in Deutschland als vergleichsweise unmodern gilt, Spielräume bietet, die viele Führungskräfte noch nicht annähernd ausschöpfen.
VdZ: Eines der Ziele des Projekts ist die Steigerung der Führungsqualität in der öffentlichen Verwaltung. Wie kann die Struktur von vor über 200 Jahren auf die Stilistik und Hierarchie heutiger Verwaltung Übertragung finden? Wozu ein Rückgriff insbesondere in Hinsicht auf die Frage von Leadership?
Arnold de Almeida: Die Analogie besteht nicht darin, dass wir die Hardenbergschen Verwaltungsreformen oder sogar den Führungsstil in der heutigen Zeit im Original wiederherstellen wollen. Es geht nicht um eine Rekonstruktion der Hardenbergschen Verwaltung nach der Art des Berliner Stadtschlosses. Wir wollen uns vorstellen, wie ein Mensch mit Hardenbergs Qualitäten heute, in unserer modernen Zeit, einen Transformationsschub auslösen würde. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, weil sich Einige darüber beklagen, dass wir das Ressortprinzip haben, welches sich auf Hardenberg zurückführen lässt und heute als Transformations- und Leistungshemmnis eingeschätzt wird. Aber ist es Hardenberg anzulasten, dass wir seit über 200 Jahren daran festhalten? Wir müssen uns fragen, warum wir es nicht schaffen, das Prinzip weiterzuentwickeln, wenn wir es wirklich als Transformationshemmnis auffassen? Das ist eine Frage des Verfassungs- und Verwaltungsrechtes. Analog gilt das auch für das Thema Führungstechnik und Führungsfähigkeiten. Eine Führung, die adaptiv ist, die den Anspruch hat, Transformationen voranzutreiben, muss zwei Orientierungen haben:
- Bürgerzentrierte Innovation nach außen ermöglichen
- Mitarbeiterzentriert nach innen agieren
Wenn wir es ernst meinen mit evidenzbasierten Entscheidungen, ist ein ganz elementarer Beitrag bei einer mitarbeiterzentrierten Führungskultur, dass wir regelmäßige Mitarbeiterbefragungen durchführen. Etwas, das heutzutage, im digitalen Zeitalter, vergleichsweise einfach und kostengünstig ist. Das sollte der Mindeststandard in allen Behörden sein, ebenso wie die lückenlose Durchführung und Auswertung der jährlichen Mitarbeitergespräche. Nicht nur als Beurteilungsgespräche, sondern auch als Beratung für die weitere Personalentwicklung. Nur so erhalten wir die Daten, die wir brauchen, um Maßnahmen abzuleiten, die die gesamte Führungskultur verbessern, in enger Partnerschaft mit den Personalvertretungen. Es wäre spannend, in jedem Geschäftsbereich zu fragen: Wer erfüllt den Mindeststandard einer jährlichen Befragung mit fast hundertprozentiger Teilnahme? Meine Hypothese ist, dass nur ein kleiner Teil das bejahen kann. Das ist bereits ein völlig unnötiger Bremsklotz, den wir aus dem System herausnehmen sollten. Aber das ist nur ein Beispiel. Wir wissen darüber hinaus, wenn wir die Mitarbeitenden befragen, wünschen sich sehr viele eine wertschätzende und partnerschaftliche Führung. Wir wissen, dass sich viele eine echte Feedbackkultur wünschen, die nicht nur in eine Richtung geht. Hier können wir sehr viel aus anderen Bereichen lernen, aus der Wirtschaft und aus dem Ausland, ohne, dass wir unkritisch solche Beispiele übernehmen. Wir brauchen aber, gerade in Deutschland, mit den gewaltigen Problemen eines Landes, das seit Langem über seine Verhältnisse lebt, die Demut, von anderen das für uns Passende zu übernehmen und weiterzuentwickeln. Hier würde ich mir gerade als früherer Behördenleiter mehr Lernbereitschaft wünschen im Interesse der Mitarbeitenden.
Sie fragten: Wie kommen wir zu wirkungsvollen Reformen? Bei den großen Kongressen, vom Parteitag bis zum Zukunftskongress, besteht immer großes Interesse an den großen, strukturellen Fragen. Sie finden immer Menschen, die darüber debattieren möchten, ob der Föderalismus in seiner heutigen Ausprägung nun ein Vor- oder ein Nachteil ist, die strategischen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen. Wir denken aber, dass das zu bequem ist, denn eine neue Struktur ist nur eine von vielen Voraussetzungen für größere Wirkung. Die Föderalismusreform II beruhte auf einem einstimmigen Konsens, ausverhandelt u.a. von Edmund Stoiber und Peer Steinbrück. Und dennoch: Es sind keine 15 Jahre vergangen und die meisten Ideen dieser Föderalismusreform wurden bereits aufgeweicht. Wir sollten uns schon fragen, welche Lehren wir daraus ziehen, aus dem Verlauf dieser Reform, aus Problemen des staatlichen Handelns im Pandemiemanagement, in der Flüchtlingskrise und in der Energiekrise. Das sind die großen Fragen, die aber nur sehr wenige Menschen, die sich jeweils in den formalen Spitzenpositionen der Verfassungsorgane des Staates befinden, lösen können. Es ist wohlfeil sich den Kopf des Bundeskanzlers zu zerbrechen, wenn man selbst nicht in dieser Verantwortung steht. Deshalb würden wir die Herausforderung eher bei jeder Person in ihrer jetzigen Rolle sehen, ob es ein Minister ist, eine Behördenleiterin oder ein Referatsleiter. Jede Person, die eine bestimmte formale Führungsverantwortung trägt, kann diese Führungsverantwortung gestaltend und transformativ einsetzen. Deshalb gibt es auch nicht nur einen Hardenberg von heute, sondern viele Hardenbergs. Wir denken, wir müssen die Führungsstile verändern, die Führungskultur verbessern. Wir glauben, dass das der viel größere Hebel ist als das Warten auf die ganz großen konstitutionellen und legislativen Reformen. Wir denken also, dass zeitgemäßes Leadership eine gewaltige transformative Kraft entfalten kann, selbst wenn die strukturellen Rahmenbedingungen dieselben bleiben. Wir denken, dass selbst das heutige Haushalts- und Dienstrecht, das in Deutschland als vergleichsweise unmodern gilt, Spielräume bietet, die viele Führungskräfte noch nicht annähernd ausschöpfen. Konkretes Beispiel: Ich muss nicht darauf warten, dass Dienstvorschriften geändert werden, um beispielsweise Beschäftigten zu helfen, berufliche Praxisphasen außerhalb der Behörde zu erleben, also in andere Gesellschaftsbereiche zu gehen und auch als erfolgreiche Beamte in der Mitte ihrer Karriere, beispielsweise Praktika durchzuführen. In Frankreich ist das eine Bedingung, um beispielsweise Präfekt zu werden. Ich muss in Deutschland nicht abwarten, dass mir mein Dienstherr das vorschreibt, ich kann das den Beschäftigten aus eigener Kraft ermöglichen. Die großen Strukturen sind das Eine - was aber kann ich in meinem eigenen Verantwortungsbereich aus eigener Kraft verändern und verbessern? Wie kann ich ein Beispiel setzen für andere Menschen auf meiner Hierarchieebene und von ihnen lernen, also diese generative Kraft aus dem mittleren Management heraus wecken? Dies ist ein wesentlicher Anspruch des im Entstehen begriffenen Hardenberg-Projekts.
VdZ: Wen sehen Sie derzeit als neuen Hardenberg und was zeichnet ihn oder sie aus?
Arnold de Almeida: Die Frage möchten wir den Leserinnen und Lesern zurückgeben. Wir freuen uns darauf, mit vielen darüber in den Dialog zu treten und das Idealbild eines modernen Hardenbergs weiter auszugestalten, dann werden wir sicher Hunderte oder Tausende finden, die diesem Anspruch schon entsprechen oder das Potenzial dazu haben.