Was sich zu neudeutsch wohl als „Mobility Innovation“ bezeichnen ließe, ist eigentlich ganz simpel: Besitzer von Tickets für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), die für mehr als eine Person gelten, lassen andere Fahrgäste mitfahren. Fahrschein-Inhaber und Mitfahrer – Angebot und Nachfrage – finden per App zueinander und treffen sich an entsprechender Haltestelle, um gemeinsam zu fahren. Die einfache wie innovative Idee dazu wurde auf einem Hackathon auf den „Future Mobility Days“ in Nürnberg geboren.
„Man fängt einfach an“
„Es lohnt sich, auch mal anders zu denken“, sagt Sandor Senne. Senne arbeitet nicht nur für das Mobilitätsdienstleister insertEFFECT, das die Veranstaltung ins Leben rief, sondern war auch selbst beim Hackathon vor Ort. Dabei kam das Team seines Unternehmens auf die Idee der Mitfahrer-App. „Man fängt einfach an, die Gedanken in eine Applikation einfließen zu lassen. Auch wenn zuerst alles noch recht rudimentär erscheint, hält man doch schon nach einigen Stunden etwas Konkretes in der Hand.“ Das Ergebnis überzeugte auch die Jury, der u. a. Robin Mager angehörte, Geschäftsführer der N-ERGIE IT GmbH, einem Tochterunternehmen der Stadtwerke Nürnberg. Durch ihn gelangte die Idee zur Nürnberger Verkehrsgesellschaft (VAG). Allein der Weg – ein Novum.
In vielen kommunalen Unternehmen dürfte der Vorstand bei solch Vorschlägen erst einmal schlucken, angesichts Investitionsaufwand und kaum zu erwartender Mehreinnahmen. Denn: Potenzielle Fahrgäste sparen sich durch die App das Entgelt für den Fahrschein. Was haben die Verkehrsbetriebe also davon?
Bürger und digitale Kreativköpfe integrieren
Die VAG betont ihre Offenheit für neue Angebote. Man habe schon andere Neuerungen ausprobiert und will den Kunden Leistungen bieten, die dem digitalen Zeitalter Rechnung tragen. Das Verkehrsunternehmen geht neue Wege, um ihren Service stärker durch Bürger-Ideen fortzuentwickeln und von der kreativen Startup-Szene inspirieren zu lassen. Dabei geht es um beides: konkrete Leistungen und das eigene Image.
Eine App ist die Gelegenheit, die jüngere Zielgruppe in einem jungen auf sie ausgerichteten Medium anzusprechen.
Dazu gehört etwa die Kooperation mit dem Nürnberger Gründerzentrum „Zollhof“. In dem Hub wird ganz selbstverständlich mit Begriffen wie Internet of Things (IoT), Artificial Intelligence (AI), Blockchain und Augmented Reality (AR) hantiert. Ein Spielfeld nicht nur für junge Entrepreneure, sondern auch immer stärker für kommunale Unternehmen: Schon länger ringen Internet-Giganten wie Google, Amazon und Co. nicht nur untereinander um den direkten Zugang zu städtischen Infrastrukturen und Haushalten, sondern auch mit den Stadtwerken – den eigentlichen Platzhirschen. Um in diesem Gerangel mitzuhalten, müssen sich kommunale Eigenbetriebe und Gesellschaften zumindest den regionalen Instrumenten und Quellen bedienen, die ihnen zugänglich sind.
Nicht nur Großinvestitionen
Das Nürnberger Beispiel zeigt, dass neben ausgefeilter Technologie und großen Investitionen auch pfiffige Ideen urbane Mobilität und „Smart“ City-Gedanken beflügeln können. Und sei es aus der Kategorie „Shared Economy“.
Für die Nürnberger Verkehrsbetriebe seien es viele kleinere Aspekte gewesen, die dazu bewogen hätten, das Experiment zu wagen, sagt Projektleiter Tobias Zuber. „Wir wollten auch Erfahrungen im Bereich der App-Entwicklung sammeln. Die Mitfahrer-App gab uns die Gelegenheit, den Dienstleister insertEFFECT zu testen und den agilen Prozess der Zusammenarbeit auszuprobieren.“ Das scheint zu funktionieren.
Die App ist bereits online, befindet sich allerdings noch in der Beta-Version. Feedback sei ausdrücklich erwünscht, erklärt die VAG. Kommentare sind über einen Link in der App für die Kunden einfach umzusetzen. So soll erreicht werden, dass die App am Ende für möglichst viele Kunden ein attraktives Angebot wird. Bisher sind das etwa 500. Neben grundsätzlichem Lob für die Idee äußern sich viele Nutzer mit konstruktiver Kritik: Mehr zeitliche Toleranz und Spielraum bei der Anzahl anzugebender Haltestellen, Zugriffe auf Medien bleibenlassen, mehr Gestaltungsspielraum. Senne: „Dass in dieser frühen Phase noch nicht ganz so viele Fahrten angeboten werden, wird sich mit der Zeit von selbst ändern.“ Bislang eine Beta-Version eben.
Und so funktioniert`s
- Wer eine Mitfahrgelegenheit sucht, geht in die App und gibt dort gewünschte Strecke und Zeitpunkt an.
- Das System überprüft, ob eine passende Fahrt angeboten wird. Angezeigt werden alle Angebote, die sowohl in Anfangs- und Endhaltestelle übereinstimmen und binnen einer Stunde des angefragten Abfahrtszeitpunktes liegen.
- Eine Kontaktaufnahme zum Anbieter ist direkt über die App möglich.
Neue Zielgruppen erreichen
Und der Datenschutz? Die App verlangt erst einmal keine personenbezogenen Daten. Beide Seiten – Ticket-Inhaber und potenzieller Mitfahrer – arbeiten mit einem sogenannten Avatar. Die endgültige Absprache kann dann je nach Präferenz per Telefon, über Chat-Kanäle oder soziale Netzwerke laufen. Wer keine passende Mitfahrgelegenheit findet, der erhält eine Verlinkung zum Fahrkarten-Onlineshop. Vielleicht kommen dadurch sogar ein paar Fahrgäste hinzu. „Über das Angebot der Mitffahrer-App erreichen wir eventuell auch eine Zielgruppe, die den ÖPNV bisher nicht oder nur selten mit eigenem Ticket nutzt und die durch das Mitfahren die positiven Seiten des ÖPNV kennen und schätzen lernen und des Öfteren umsteigen“, erklärt Projektleiter Zuber.
OB Maly: tolle Idee, um Straßen zu entlasten
Das findet auch Nürnbergs Oberbürgermeister Ulrich Maly. „Mit der Mitfahrer-App schafft die VAG einen zusätzlichen Anreiz, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um hohe Belastungen durch den KFZ-Verkehr in unseren Innenstädten ist es eine tolle Idee, wenn Fahrgäste so ungenutzte Plätze ihrer gekauften Tickets anbieten und damit unsere Straßen entlastet werden.“ Erfreulich sei ebenso, dass die Stadt das System mit einem Nürnberger IT-Dienstleister entwickelt habe und „ein Signal für kreative Lösungen aus unserer Region kommt“, so Maly.