Eine selbstkritische Betrachtung der Digitalisierung
Und der Mensch schuf die Informationstechnologie in 6 Tagen – am Sonntag war er nutzlos
Tag 1 IT, das undankbare Kind IT – oder: warum Welpen, die beißen, „süß“ sind
Kein anderes Lebewesen auf dem Planeten Erde ist in der Lage, so schnell und ohne Resümee der absehbaren Konsequenzen abnorm des Instinktes zu handeln. Gerade noch härteste Konkurrenten im Hürdenlauf, dreht sich der Führende um und hilft dem gestürzten Zweiten, um dann zusammen nicht einmal die Qualifikation für das Finale zu schaffen. Vergleichbar mit dem demografisch abgeschlagenen Mitarbeiter-Altbestand? Wollen wir ihnen sozial die Hand reichen und ein wenig entgegenkommen - ein wenig später ins Ziel, dafür aber gemeinsam? Definieren wir die „binäre Betrachtung von Sachgegebenheiten“ als inhuman, erfüllt die IT der Jetztzeit diese Eigenschaft ohne Frage. Aber bestrafen wir sie dafür? Wird sie geächtet? Nein, wir hätscheln sie, wir tätscheln sie, tragen sie in den Wahlprogrammen der Parteien vor uns her und deklarieren sie als europäische Norm. Wie der kleine Hund, der beißt, aber dessen Zähne noch nicht so scharf sind, dass man sich verletzt – ist doch nicht so schlimm.
„Wir müssen die Menschen mitnehmen!“ lautet die E-Akte-Projektparole der Jetztzeit. Wohin nehmen wir sie denn mit? Fragen über Fragen – aber die Devise ist „Erst mal machen!“. Wenn wir so in Deutschland Autos konstruieren würden, wäre Abgas unser geringstes Problem bei der motorisierten Fortbewegung.
Tag 2 HAL sagt: Die Welt ist eine Scheibe
Im Zuge der gesamten Kontextbetrachtung und dessen Vollständigkeit vorausgesetzt, sind Entscheidungen aus der informationstechnologischen Verarbeitung meistens von höherer Nachhaltigkeit und Logik geprägt als die des Menschen, auch wenn sie temporär unser Empfinden von Gerechtigkeit nicht erfüllen. Es mag daran liegen, dass wir als menschliche Rudeltiere generell ein harmonisches Miteinander befürworten. Wobei tief in uns drinnen immer das Herz der Eroberer schlägt. Auch in einem Rudel gibt es eine Hierarchie – in der Tierwelt geprägt durch Stärke aus Überlebensinstinkt. Im Zeitalter des geistigen Verbundes stellt physische Stärke nicht mehr das Nonplusultra dar – sondern Information ist heute die neue Macht. Stellen Sie sich Leonardo da Vinci vor, wie er von seinem Lehrling belehrt wird, dass er nicht mehr „up to date“ sei oder besser nach Hause gehe, da er nicht mehr von-nöten sei. Kein Meister sieht es gerne, wenn seine Praktiken infrage gestellt werden, noch katastrophaler ist es da, wenn sie von Schülern kritisiert werden. So müssen sich wegdigitalisierte Menschen fühlen, die gerade eben ihre jahrelange analoge Erfahrung mithilfe von Anforderungsspezialisten in eine Software gegossen haben.
Kein Meister sieht es gerne, wenn seine Praktiken infrage gestellt werden, noch katastrophaler ist es da, wenn sie von Schülern kritisiert werden.
Tag 3 Evolution mal anders
Denn diese tickt naturgemäß digital und brutal ähnlich wie die IT. Tod und Leben – 0 und 1. Sie basiert auf den zwei Regeln des anders sein zu „wollen“ und des anders sein zu „müssen“. Das „Anders-sein-Müssen“ haben wir durch Technologie maßgeblich hinter uns gelassen. Der Genpool des Neandertalers ist keine Lichtjahre von unserem entfernt. Heute „muss“ niemand seine Lebensumgebung verlassen, weil zu heißes Wetter regelmäßig die Ernten vernichtet. Heute bestellt man sein Brot bei Amazon Italien. Erinnert man sich noch an die Damen der Vermittlungsstelle oder das Band der Zeitansage? Spricht man mit der Generation Y – keiner mehr. Was ist mit den ganzen Menschen geworden, die damit ihr Geld verdienen haben? Jede Substituierung des technologischen Fortschritts hatte damals eine unzählige Folge von analogen, leicht verständlichen neuen Schritten bedingt. Das Löten von Leiterplatinen, das Assemblieren von Hardware oder das Verkaufen dieser neuen Technologien. So fand jeder seinen Platz als wertvolles Mitglied der moderner werdenden Gesellschaft. Es war genügend Zeit vorhanden, seine eigenen Kinder ohne die „Zeitansage“ mit einer Funkuhr auszurüsten und mit guter Zuversicht seinen Liebsten diese Technologie zu erklären. Diese Gelassenheit existiert nicht mehr. Was früher noch Generationenwechsel bedeutete, ist heute eine Frage von einem knappen Jahr und es wird schneller – sehr viel schneller.
Was früher noch Generationenwechsel bedeutete, ist heute eine Frage von einem knappen Jahr und es wird schneller – sehr viel schneller.
Tag 4 Vom „Wollen“ und „Müssen“ – und wie man den Überblick verliert
Das „Anders-sein-Wollen“ hat dagegen heute Hochkonjunktur. Wie sich generell die genetische Evolution aufgrund des fehlenden „Anders-sein-Müssen“ egalisiert hat, wurde dieser Umstand durch das „Wollen“ substituiert. Durch Bildungssysteme ist es immer einfacher geworden, erworbenes Wissen weiterzugeben und darauf aufzubauen. Die Allgemeinbildung hat die Menschen auch „gleicher“, also allgemeiner gemacht. Diesen Umstand entgegnet man heute mit „Anders-sein-Wollen“. Die Spartifizierung war geboren. Was früher noch allgemeine Philosophie war, wurde Natur- und Geisteswissenschaften und selbst diese wurden in weitere Unterkategorien aufgeteilt und wieder und wieder. Eine Herangehensweise, mit den Disziplinen Informationen zu verarbeiten, das heißt forschen, und Informationen zu teilen, das heißt lehren, wurde seit der Antike erfolgreich etabliert. Doch mit den immer detailverliebteren Sparten wurde es eine hehre Aufgabe, den Gesamtkontext nicht aus den Augen zu verlieren. Heute sind wir an einem Punkt angekommen, an dem ohne die IT schier nichts mehr realisierbar scheint. Selbst Landwirte sprühen Pestizide drohnengestützt millimetergenau auf ihr Feld.
Die Allgemeinbildung hat die Menschen auch „gleicher“, also allgemeiner gemacht.
Tag 5 Der Übergang zum „Nicht-mehr-gebraucht-Werden“
Orientierten sich die informationstechnologischen Erfindungen der 80er- und 90er-Jahre noch daran, mechanische Arbeitsabläufe zu optimieren – also anders gesagt: Handwerker zu entlassen –, sehen wir uns heute einer Optimierung der Prozesse an sich gegenübergestellt – der Digitalisierung. Nicht nur ein neuer Blickwinkel, sondern diametrale Veränderungen unseres Lebenskontextes. Waren früher noch leicht erklärbare Aufgaben für die Damen der Telefonzentrale verfügbar, sehen wir heute die ersatzlose digitale Ablösung dieser Aufgaben. Die analoge Welt stirbt und die Frage zwängt sich auf, ob man diesem Effekt durch bloßes geografisches Verbringen seiner selbst oder stures Aussitzen aus dem Weg gehen kann – die Antwort lautet: Nein. Auf das Wetter hat IT zwar noch keinen Einfluss, aber auf unsere Kinder bereits erheblich. Insofern sollte man das „Anders-sein-Wollen“ der einen nicht zu einem „Anders-sein-Müssen“ der anderen werden lassen.
Laut „Job Futuromat“ der Bundesagentur für Arbeit besteht der Arbeitsalltag eines Verwaltungsfach-angestellten im Wesentlichen aus sechs verschiedenen Tätigkeiten. Fünf davon könnten heute schon von Robotern übernommen werden.
Tag 6 Judgement Day – oder: wie Zion fallen wird
Gerät der Mensch an eine komplexe Aufgabe, reagiert er laut Forschung mit zwei Maßnahmen. Erstens „Herumprobieren“, und wenn das nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat, mit „Dekomplizierung“ – also dem Zerteilen der Aufgabe in kleinere, verständlichere, lösbare Teile. Die Softwareentwicklung hat vergleichbare Methoden – die Microservices. Laut dem Job Futuromat der Bundesagentur für Arbeit besteht der Arbeitsalltag eines Verwaltungsfachangestellten im Wesentlichen aus sechs verschiedenen Tätigkeiten. Fünf davon könnten heute schon von Robotern übernommen werden. Damit ist die Einstufung der Automatisierbarkeit dieses Berufes mit 83 Prozent „hoch“. Die Automatisierungsquote eines Organisationsprogrammierers oder Friseurs beträgt 0 Prozent. Worauf soll das hinauslaufen?
Entweder Sie sind Teil der informations-technologischen Weiterentwicklung Ihrer Behörde oder Udo Walz ist Ihr neues Idol.
Tag 7 The Day after – oder: die nackte Wahrheit
Entweder Sie sind Teil der informationstechnologischen Weiterentwicklung Ihrer Behörde oder Udo Walz ist Ihr neues Idol. Auch wenn Deutschland sicher einige innovativere Frisuren vertragen könnte, sind wir uns glaube ich einig, dass wir damit kein Exportweltmeister werden. „Nur zwei Dinge auf dieser Welt sind uns sicher: der Tod und die Steuer.“ (Benjamin Franklin) Beides jedoch verändern wir stetig zu unserem Vorteil. Das sollten wir uns auch mit dem Zögling IT vornehmen - und Informationstechnologie anpassen in puncto Sozialverträglichkeit und Demografie. Klar ist: Wenn vollständig „digitalisiert“ wurde, ist in gleichem Maße „rationalisiert“ worden. In Deutschland sollte jeder ein Anrecht auf sinnvolle Beschäftigung haben. Wie sieht der Plan nach der Digitalisierung aus? Wo sind die Personalkonzepte, die Weiterbildungsmaßnahmen und die Vorruhestandsprogramme für diejenigen, die den Sprint nicht mehr gehen wollen? In der Industrie sorgt ein Auswaschungsprozess für die Modellierung der Belegschaft – der öffentlichen Hand fehlt ein solcher. „Wir müssen die Menschen mitnehmen!“ lautet die E-Akte-Projektparole der Jetztzeit. Wohin nehmen wir sie denn mit? Fragen über Fragen – aber die Devise ist „Erst mal machen!“. Wenn wir so in Deutschland Autos konstruieren würden, wäre Abgas unser geringstes Problem bei der motorisierten Fortbewegung.
Der Artikel ist ein Gastbeitrag von Christian Rupert Maierhofer, General Director A/V Software Solutions 360°, Bechtle GmbH & Co.KG.