Gibt es eine „Grenze der Integrationsfähigkeit“ auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene?
Wann ist sie erreicht und wie lässt sie sich messen?
„180.000 bis 220.000 Zugewanderte jährlich – das ist die durchschnittliche Zuwanderungszahl der letzten 20 Jahre. Dieser Wert hat keinerlei wissenschaftlichen Hintergrund“, erklärte Professor Dr. Stefan Immerfall, Institutsdirektor der Abteilung Soziologie der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Die Zahl hätte vor allem einen politischen Mehrwert, da dadurch der Begriff „Obergrenze“ vermieden wird.
Die tatsächliche Grenze der Aufnahmefähigkeit ließe sich nicht in Form einer fixen Zahl, eher in Form eines „Grenzsaums“ festlegen, so Immerfall.
Krisenindikatoren für Integrationsfähigkeit
Dieser Grenzsaum setzt sich aus den Kapazitäten des Rechts-, Gesundheits-, und Sicherheitssystems sowie Wohnungs- und Bildungsmarkt zusammen. Als eine der wichtigsten Rahmenbedingungen erachtet der Soziologe den Arbeitsmarkt: „Integration works if immigrants work.“ Eine quantitative Maximalauslastung sei für diese Kapazitäten nicht zu bestimmen, jedoch lassen sich Krisenindikatoren angeben.
Beispiele dafür seien eine hohe Arbeitslosenquote unter den Zugewanderten, ethnische Konzentrationen in Stadtvierteln oder negatives, soziales Verhalten durch Migranten oder Einheimische. „Hierbei handelt es sich um nachlaufende Faktoren. Sie treten ein, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“, erläutert der Professor.
Erfolgsfaktoren Vereinstradition und Integrationskonzept
Der Schwäbisch Gmünder ist der Überzeugung: seine Stadt hat die Integration im Griff. Es käme zu wenig Gewalt,gäbe kaum Bürgerinitiativen gegen Zuwanderer, Geflüchtete leben in allen Teilen der Stadtgebiets. Seit 2008 hat die Kommune im Osten Baden-Württembergs ein Integrationskonzept und in Folge dessen frühzeitig organisatorische Veränderungen innerhalb der Stadtverwaltung vorgenommen.
Schwäbisch Gmünd hat mit über 200 Jahren eine lange Vereinstradition und ist durch rege Bürgerbeteiligung geprägt. Als einen Erfolgsindikator der Integration sieht der Soziologie-Professor deshalb, dass sich viele Geflüchtete bereits in den Vereinsstrukturen der Stadt engagieren.
Präventive Integrationsmaßnahmen
Cottbus ist mit rund 100.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Brandenburgs und liegt an der Grenze zu Polen. In den 90er Jahren kam eine Vielzahl rumänischer Migranten in die Stadt. Das löste rechtsextreme Aktivitäten in der Bevölkerung aus.
Daher setzt die Stadt jetzt auf eine präventive Integrationsstrategie, so Oberbürgermeister Holger Kelch. Die Bürger werden genau darüber aufgeklärt wie Flüchtlinge versorgt werden, um Sozialneid vorzubeugen. Die Stadt informiert wöchentlich in Bürgerdialogen über Integrationpolitik und -maßnahmen. Bereits im Jahr 2014 hat der OB vorgeschlagen, eine Stabstelle für Asyl einzurichten: „Wir waren gut vorbereitet.“ Trotzdem musste das Land Brandenburg für Cottbus einen Zuzugsstopp verhängen.
3.300 statt 1.500 Geflüchtete
Die Aufnahmekapazitäten der Kommune wurde überreizt: statt erwarteten 1.500 Geflüchteten wurden Cottbus 3.200 Flüchtlinge zugeteilt. Zwar kann die Stadt deren Grundversorgung sicherstellen und musste keine öffentlichen Gebäude zur Unterbringung zweckentfremden, zur tatsächlichen Integration fehle es aber an Mitteln. „Wir haben eine Verantwortung für uns selbst, aber auch für die Menschen, die zu uns kommen“, erklärte das Stadtoberhaupt.
Mittlerweile leben 3.300 Flüchtlinge in der Stadt, davon sind zu Kelchs Bedauern nur 280 in einer Ausbildung oder Beschäftigung.
Der CDU-Politiker fordert, dass es im Rahmen des Asylrechts auch ein Einwanderungsgesetz geben muss. Ohne dieses wäre die Belastung auf Haupt- und Ehrenamtliche zu groß, der Ausbau von Stellen ohne Bezugspunkt und vor Land und Bund gebe es keine Rechtfertigung. „Wir müssen alles tun, dass die Einheimischen gar nicht merken, dass Flüchtlinge da sind.“ Als Vorteil sieht der Kommunalpolitiker, dass Ost-Städte noch keine „Armen- und Reichenviertel“ hätten und öffentlicher Wohnraum besser verteilt werden kann. Um Integration zu meistern, brauche es allerdings das nötige Vertrauen des Bundes.
Raus aus dem Projektdenken
Der Tenor aus dem Kongress-Publikum sagt etwas anderes: Bund und Länder hätten Vertrauen in die Kommunen – nur das Geld fehle. Die Hemmnisse für Fördergelder sollten deutlich gesenkt werden.
Die Kommunen und Verbände müssen ständig in Förderstrukturen denken. Hier bräuchte es mehr Flexibilität für den Einsatz der Finanzen. Das Geld solle fern von Integrationsprojekten direkt an die Kommunen gehen, sodass Städte, Gemeinden und Kreise verlässlich und langfristig auf Mittel zugreifen können. Des Weiteren sollen Bund und Länder mit der Kommunalebene „auf Augenhöhe gehen“ und zu hören. Die Überschreitungen der Integrationsfähigkeit seien vor allem in armen Städten sichtbar.
Seit 1996 habe sich die Anzahl der Schulen in Cottbus halbiert, es fehlen 600 Kita-Plätze – ein langfristiges Problem, welches sich auch innerhalb der Integrationsarbeit negativ auswirkt. Fördergelder könne man dafür nicht einfordern, bedauert Kelch.
„Die Stadtteile fliegen uns zuerst um die Ohren“
Neben der Dortmunder Nordstadt, wird auch oft Altessen als Vorzeigestadtteil für „gescheiterte Integration“ genannt. Der Unterbezirksvorsitzende der Stadt, Karlheinz Endruschat, sieht dieses Phänomen in der Vorgeschichte der Stadt begründet. In den 1950er Jahren gab es eine Einwanderungswelle aus Südeuropa, gefolgt von Zuwanderern aus der Türkei in den 1960ern. Seit 1987 habe sich der Anteil an Migranten in Essen verdreifacht.
„Unsere brennenden Öl-Fässer sind die Wahlergebnisse der AfD“, erklärt der SPD-Politiker. Auch eine durch Bürger initierte Demonstration „Der Norden ist voll“ musste durch die Stadt gestoppt werden. Der gleiche Titel wurde zuvor für eine rechtsextreme Aktion verwendet, was den Unterbezirksvorsitzenden schockiert.
Die Verteilung der Flüchtlinge in der Stadt würde über die Wohnungspreise geregelt. Es bräuchte hier ein neues Städtebau-Konzept, welches eine „Durchmischung“ der Bevölkerung zulasse.
Die Integrationsfähigkeit einer Region ist für Endruschat anhand der kleinsten Einheit zu betrachten: „Die Stadtteile fliegen uns zuerst um die Ohren.“
Desintegration durch Misstrauen in den Staat
Dr. Ronney Aamoucke hat Anhörungen des BAMF begleitet und sieht Integration als einen beidseitigen Prozess nationaler Sicherheit. Das Verhalten der Asylbehörden wirkee sich direkt auf das Verhalten der Geflüchteten aus: „Wie fühlt sich ein Flüchtling, der legal einen Asylantrag stellt, wenn er sieht wie ein illegaler Asylbewerber an einen deutschen Pass gelangt?“ Nach Annahme des Autors und Volkswirts verlieren die Asylbewerber an dieser Stelle das Vertrauen und den Respekt in den Staat. Gerechtigkeit sei allerdings Grundvoraussetzung für Integration. Kann der Bund keine korrekten Asylverfahren gewährleisten, erschwere das die Arbeit in den Kommunen enorm.
Förderstrukturen grunderneuern
Aus den Aussagen der Praktiker lässt sich schließen: Es gibt eine Grenze der Integrationsfähigkeit. Allerdings ist diese nur schwer quantifizierbar. Die Integrationsfähigkeit schwankt je nach Region und infrastrukturellen Voraussetzungen:
- Welches Personal, welche ehrenamtlichen Strukturen sind vorhanden?
- Wie ist die Kommune wirtschaftlich aufgestellt?
- Welche Erfahrungen haben sie bereits mit Migration?
Auch Bürgerbeteiligung, Transparenz und eine offene Fehlerkultur spielen im Rahmen der Integrationsfähigkeit eine Rolle. Die Folgen der Grenzüberschreitung lassen sich vor allem in den Kommunen vor Ort erkennen. Aus der Werkstatt des Kongresses geht eine geschlossene Botschaft hervor: Die Kommunen brauchen Mittel des Bundes und der Länder, um integrationsfähig zu bleiben. Die Förderstrukturen müssen für die Querschnittsaufgabe der Integration neu gestaltet werden.