Ordnung statt Aufbruch: Behindert die "German Angst" digitale Innovationen?
Die Diskussion zum Abschluss des 7. Zukunftskongresses Staat & Verwaltung im Juni 2019
Während andere Völker in der Geschichte oft nach „draußen“ aufbrachen, trat Deutschland inmitten seiner jahrhundertelangen Kleinstaaterei meist nach innen. Das hat hierzulande keine großen Seefahrer hervorgebracht, dafür viele „Binnen-Entdeckungen“ – wie die vielen mittelständischen Weltmarktführer oder auch die starke öffentliche Verwaltung. „Hat uns das mit Blick auf unsere fehlende Führungsrolle bei der Ausgestaltung unserer heutigen digitalen Welt zu zögerlich gemacht“, fragte Moderator Dr. Klaus von Dohnanyi. Stehen wir vor einem großen Mentalitätsproblem?
Es sieht ein bisschen danach aus. Und könnte mit der weltbekannten „German Angst“ zu tun haben: Angst, Fehler zu machen, Angst, etwas nicht beim ersten Mal perfekt hinzubekommen – Angst, zu wenig auf die Sicherheit geachtet zu haben. Die tiefste und breiteste Ausprägung dieses von Juristen geprägten Systems findet sich wohl in der öffentlichen Verwaltung.
Bei uns muss immer alles rechtlich in Ordnung sein – wir sind da vollkommen anders.
Rechtsstaat, keine Revolution
Die deutsche Geschichte sei nicht aus Bourgeoisie und Revolution erwachsen, sondern aus dem Rechtsstaat, unterstrich Dohnanyi. „Bei uns muss immer alles rechtlich in Ordnung sein – wir sind da vollkommen anders.“ Trotz vieler Niederlagen sei die Bundesrepublik selbst nach dem 2. Weltkrieg sehr schnell wieder „oben auf“ gewesen, erklärte Dohnanyi. „Darauf sind wir auch stolz – aber warum stoßen wir jetzt hier an diese Mauer?“ Braucht es mehr Mut und Durchhaltevermögen für digitale Innovationen, auch wenn die Dinge nicht immer gleich auf Anhieb funktionieren?
Usability um den Menschen herum heißt, dass er die digitale Welt auch erlebt und nicht nur ein Gerät vor sich hat, auf dem er herumtippt.
Gesetze und Technik – das können wir
„Wir Deutschen sind Technologie getrieben, wir lieben das – und darin sind wir auch gut!“, sagte Dr. Dirk Woywod. Viele Entscheidungen werden aus Sicht des CTO von Verimi deshalb auf dieser Grundlage getroffen und weniger mit Blick auf die Nutzbarkeit und Verständlichkeit von digitalen Diensten und Leistungen. „Usability um den Menschen herum heißt, dass er die digitale Welt auch erlebt und nicht nur ein Gerät vor sich hat, auf dem er herumtippt.“ Darüber hinaus fehlt Woywod hierzulande ein übergeordnetes Digitalisierungskonzept. Eine solche Strategie müsste von der Wirtschaft und der Politik „glaubhaft nach vorne“ getragen werden.
Insellösungen, fehlende Schnittstellen und keine Vision
Ähnlich sieht das der Chef des Deutschen Beamtenbundes (dbb), Ulrich Silberbach. Der ausgeprägte „Ordnungsrahmen“ hierzulande stehe zwar nicht im Widerspruch zur digitalen Entwicklung. „Wir haben einfach eine Entwicklung verschlafen“, unterstrich Silberbach. Nach dem die allgemeine Datenverarbeitung in Deutschland seit Jahrzehnten gut funktioniert, seien der Politik nun beim nächsten Schritt der Automatisierung schlicht die Ideen ausgegangen. Stattdessen wurden aus Sicht des Gewerkschaftschefs Unternehmensberatungen unkontrolliert in Ministerien und Behörden geholt. „Ergebnis ist, dass wir heute haufenweise Insellösungen haben – und die Schnittstellen wurden niemals richtig organisiert, denn isolierte Insellösungen ziehen Folgeaufträge nach sich.“ Mit Blick auf die oft als Hemmschuh deklarierten Datenschutzregeln, sagte Silberbach, dass diese tatsächlich ab und an hinderlich sein könnten, „aber nicht beim Herausarbeiten von Digitalisierungskonzepten“.
Wir haben einfach eine Entwicklung verschlafen.
Dänischer Gesetzgebungsprozess vollkommen anders
Einen visionären Ansatz hat es laut Dänemarks Botschafter Friis Arne Petersen auch bei unserem nördlichen Nachbarland nicht gegeben. „Wir haben es aber gut verstanden, sehr früh die richtigen Dinge zu tun.“ Das Resultat: Mehr als 3.600 Verwaltungsleistungen sind heute digitalisiert, 90 Prozent der Verfahren mit den Bürgern laufen digital. Voraussetzung dafür – und offenbar auch einer der größten Unterschiede zwischen deutschem und dänischem politisch-administrativen System – ist der fokussierte Gesetzgebungsprozess: Während hierzulande Juristen die Gesetze schreiben, beteiligt sich in Dänemark eine Vielfalt aus Soziologen, Wirtschafts- und Politikwissenschaftler daran, „digitaltaugliche“ Paragraphen hervorzubringen. Vor 50 Jahren sei die Situation in seinem Land noch ähnlich der hierzulande gewesen, konstatierte Petersen. In den Jahrzehnten danach habe sich die Verwaltung jedoch fundamental verändert und konsolidiert. „Das war wirklich wichtig für unsere moderne Regierungsführung heute.“
Einige Staaten treiben Innovationen aus dem öffentlichen Sektor voran, d. h. die probieren etwas aus und müssen nicht immer auf den großen Wurf der Industrie warten.
Zum Beispiel den Gesundheitssektor öffnen
Aus Sicht Dirk Woywods ist Dänemark ein gutes Beispiel für einen pragmatischen Ansatz, der sich gerade nicht sofort an der ausgereiftesten Technik festsetzt. So nutzten die Dänen zur Authentisierung etwa weiterhin ein Verfahren, das die TANs noch in Papierform zur Verfügung stellt. Diese aus dem Online-Banking bekannten „Zettel-TANs“ werden hierzulande derzeit gänzlich abgeschafft. Woywod empfiehlt, sich von starren Denken und Strukturen zu befreien und weitaus mehr offene Standards „zum Andocken“ bereitzustellen. „Bei uns ist der gesamte Gesundheitssektor geschlossen.“ Das suggeriere Sicherheit, verschränke für alle anderen allerdings den Zugang und sei innovationsfeindlich. „Einige Staaten treiben Innovationen aus dem öffentlichen Sektor voran, d. h. die probieren etwas aus und müssen nicht immer auf den großen Wurf der Industrie warten.“ Es sei ihm viel lieber, wenn es in einer Beta-Version noch etwas wackle oder Fehler aufträten, als ewig auf eine 120 Prozent-Lösung zu warten, so Woywod.
Mut für mehr Freiheit und auch Schutz
Also mehr Mut für diese Freiheit, und Schutz für diejenigen, die etwas ausprobieren und womöglich einen Fehltritt erleiden? Was müsste passieren, fragte v. Dohnanyi, damit Behördenleitungen eine solche Kultur nicht nur tolerieren, sondern vernünftige, und eben auch gescheiterte Versuche decken und mit einer Fehlerkultur zu mehr kreativem, eigenständigem Handeln auffordern?
Entscheidungen unabhängiger von Titel und Gehaltsstruktur treffen
Ideen brauchten eine gewisse Plausibilität, dann müsse aber schnell daran gefeilt werden, um Fortschritte zu erzielen – oder eben zügig zu scheitern. Als mittelständischer Software-Unternehmer hat Günter Junk die Entwicklung agilen Arbeitens in seiner Branche über die letzten anderthalb Jahrzehnte miterlebt. „Vielleicht sollten wir mal einen Schritt zurücktreten und für manches die Jungen vorlassen, die das einfach anders machen würden“, sagte der der CEO der Virtual Solution AG. Die Entscheidungsstrukturen seien auch in der öffentlichen Verwaltung sehr durch die Alterspyramide geprägt. Künftig muss es deshalb aus seiner Sicht darum gehen, Entscheidungen unabhängiger von Titel und Gehaltsstruktur zu fällen. Dadurch komme es nicht unbedingt zu besseren oder schlechteren Ergebnissen, aber zu anderen.
Wir dürfen die Leute, die ihre Ideen an Mann und Frau bringen sollen, nicht im Alltag verschleißen.
Es geht um Behördenleitungen und Politik
„Das wäre vernünftig“, erklärte auch Silberbach. Die einfache Aufforderung „Spielt mal!“ greife in vielen Bereichen jedoch zu kurz. Viele Mitarbeiter hätten den Tisch voll von Akten – ein Resultat, dass der öffentliche Dienst in der Vergangenheit „auf Kante genäht“ wurde. „Wir dürfen die Leute, die ihre Ideen an Mann und Frau bringen sollen, nicht im Alltag verschleißen.“ Die Schranken lägen nicht bei den Mitarbeitern, sondern bei den Behördenleitungen und in der Politik. Der dbb-Vorsitzende sieht zudem ein politisch-strukturelle Problem: Bei den klassischen Laufbahnen müsse man immer wieder eine Gratwanderung zwischen gehobenen und höherem Dienst vornehmen.
Meistens wissen die Mitarbeiter woran es krankt, aber sie werden nicht gefragt, sondern Juristen daran gesetzt.
Pitchen vor dem höchsten Landesbeamten
In den USA muss man mal gescheitert sein, um an Risikokapital zu kommen, so der Tenor Christian Rupps, der als CIO der Mach AG kürzlich das Silicon Valley besuchte. „Man kann es so nicht kopieren, es ist eine andere Denkweise.“ Vielleicht aber adaptieren: Im Bundesland Niederösterreich haben Mitarbeiter mittlerweile die Chance, ihre Ideen vor dem Landesamtdirektor und höchsten Beamten im Land intern zu „pitchen“. „Meistens wissen die Mitarbeiter woran es krankt, aber sie werden nicht gefragt, sondern Juristen daran gesetzt“, erklärte Rupp. Diese würden dann erklären, was alles nicht geht, aber nicht sagen, was funktioniert. Das müsse sich ändern. Und dafür könnten ebenso die Bürger integriert werden. Die Stadt Wien hat etwa einen „Masterplan Partizipation“ und darin eine „Beteiligungsschleife“ für die Stadtentwicklungspolitik entwickelt.
Nachbarländer hoffen auf mehr Tempo hierzulande
Schließlich brachte Dänemarks Botschafter Petersen nicht nur die dänische, sondern auch die Perspektive weiterer Nachbarländer der Bundesrepublik zum Ausdruck. Deutschland habe eine so europäisch global vernetzte Wirtschaft, dass man sich manchmal über den im Vergleich geringen Digitalisierungsgrad hierzulande wundere. Deshalb komme es auch bspw. für Schweden, die Niederlande, sein eigenes Land und ein erfolgreiches Europa darauf an, dass Deutschland bei der Digitalisierung Fortschritte mache.