Verwaltung der Zukunft: Sehr geehrter Herr Schindler, können Sie kurz sich und Ihre Rolle und Aufgaben bei IBM beschreiben?
Schindler: Ich bin innerhalb der IBM in einer globalen Rolle für den Öffentlichen Sektor tätig. So arbeite ich beispielsweise auch mit Kunden in Deutschland, wie z.B. der Justiz zusammen. IBM ist seit vielen Jahren einer der großen Entwicklungspartner für IT-Anwendung in der Justiz. In unserer aktuellen Studie „Unter Digitalisierungsdruck“, die ein großes Projekt in den vergangenen Monaten war, haben wir Führungspersönlichkeiten aus der Richterschaft zum Stand und den Perspektiven der Digitalisierung befragt.
VdZ: Wie weit sehen Sie die Justiz beim Thema Digitalisierung und was muss getan werden, damit die Digitalisierung in der Justiz voranschreitet?
Schindler: Unsere Sicht ist zweigeteilt. Die Justiz hat schon vor vielen Jahren wichtige zentrale Entscheidungen zur Digitalisierung der Justiz getroffen. Man denke beispielsweise an die flächendeckende Einführung der E-Akte oder die starke Vereinheitlichung der Fachverfahren. Da ahnte man noch nicht, wie schnell sich die IT entwickelt, so dass heute Digitalisierung in Gesellschaft, Arbeit und Leben omnipräsent ist. So ist die Justiz aus heutiger Sicht lediglich auf der halben Wegstrecke unterwegs. Es gibt enormen zusätzlichen Handlungsbedarf im Bereich der Digitalisierung. Das hat auch die Richterschaft in der Studie deutlich adressiert. Das Gericht im digitalen Zeitalter wird sich noch grundlegend verändern: in der Außenkommunikation, den Prozessen und auch in den Rollen der Beschäftigten. Die meisten meiner Gesprächspartner sehen hier enorme Auswirkungen.
VdZ: Wäre der angekündigte Digitalpakt ein erster sinnvoller Schritt und wo müsste dieser Digitalpakt seinen Schwerpunkt setzen?
Der Digitalpakt ist für einige nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Für die umfassende digitale Transformation der Justiz ist dies tatsächlich deutlich zu wenig, wenn man diese entschlossen angehen will.
Schindler: Man muss festhalten, der Digitalpakt ist zunächst eine gute Initiative. Einige würden allerdings sagen, es ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, weil er nur 200 Millionen Euro umfasst.
Wir sehen auch, dass der Investitionsbedarf für die Digitalisierung der Justiz in den nächsten Jahren milliardenschwer ist. Man kann damit gewiss einige Themen voranbringen wie z.B. die virtuelle Rechtsantragsstelle, Online-Gerichte oder Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in Massenverfahren. Für die umfassende digitale Transformation der Justiz ist dies tatsächlich deutlich zu wenig, wenn man diese entschlossen angehen will. Wir halten es für wichtig, wenn der Digitalpakt auch mit einer Strategie zur Digitalisierung verknüpft wird, die von den Ländern und dem Bund gemeinsam mitgetragen wird. Dann wäre es sinnvoll, auch den Digitalpakt zu nutzen, um die Strategie umzusetzen.
VdZ: Was können die Gerichte eigenständig tun, um die Digitalisierung voranzubringen?
Schindler: Unsere Gesprächspartner sehen bei der Ausgestaltung der Digitalisierung die Gerichte in einer starken Rolle der Mitsprache und Erprobung. Die Digitalisierung der Justiz trifft nämlich den Kern der richterlichen Arbeit. Wenn beispielsweise KI als Assistent des Richters zur Bearbeitung von Massenverfahren eingesetzt wird, dann hat dies Einfluss auf originären Tätigkeiten des Richters. Hier müssen Richter mitentscheiden und finden auch gewiss die besten Lösungen. Wir sehen das auch in unseren KI-Projekten FRAUKE (Fluggastrechte, Amtsgericht Frankfurt) und OLGA (Dieselverfahren, Oberlandesgericht Stuttgart), die wir in agilen Entwicklungsprojekten mit der Richterschaft entwickelt haben.
Wir halten es für wichtig, dass die Governance der Justiz zur Steuerung der Digitalisierung überarbeitet wird und Gerichte – z.B. in Form von Leuchtturmgerichten – darin eine feste Rolle spielen.
VdZ: Wie stellen Sie sich die Zukunft der Justiz vor und welche Vorteile aber auch welche Nachteile ergeben sich durch die zunehmende Digitalisierung?
Schindler: Digitalisierung führt überall zu grundlegenden Veränderungen auch in der Justiz. Den Vorzügen stehen in der Regel auch Nachteile gegenüber. Nehmen Sie die Einführung der e-Akte: Mit der Einführung werden Mitarbeiter in den Poststellen nicht mehr gebraucht. Dies betrifft gewiss in der Justiz aberhunderte Beschäftige, deren Berufsbild entfällt. Gleichzeitig entsteht für die professionelle Umsetzung von Videoverhandlungen in den Gerichten ein enormer Bedarf an technischen Supportkräften, die helfen, das praktisch umzusetzen. Berufsbilder verändern sich und es entstehen allerorts durch Digitalisierung neue Tätigkeitsbereiche.
In der Justiz muss und wird noch einiges passieren!
Oder nehmen Sie den angesprochenen Bereich der KI. Als Assistent des Richters dient die KI als Werkzeug, um die Arbeit eines Richters bei der Dokumentenanalyse zu erleichtern, wenn er beispielsweise mit einer Vielzahl umfangreicher, inhaltlich nahezu identischer Schriftsätze zu tun hat. Die KI hilft dem Richter, die relevanten Informationen zu selektieren. Ein Richter kann sich nun deutlich mehr auf seine richterliche Arbeit konzentrieren, nämlich seiner Urteilsfindung. Die Richter, mit denen wir gearbeitet haben, schätzen diese Vorteile sehr. Zugleich ist aber abzusehen, dass diese Veränderungen in Zukunft auch zu grundlegenden Fragen führen werden. Mit welchen richterlichen Aufgaben befassen sich Gerichte in Zukunft? Gelangen einfache Streitigkeiten um Verbraucherrechte noch vor Gericht oder werden sie auf Verkaufsplattformen wie z.B. Amazon gelöst? Oder geht die KI der Justiz so weit, dass sie bestimmte Fälle im Bereich der Massenverfahren automatisiert entscheidet? Ich denke, in der Justiz muss und wird noch einiges passieren!