Prof. Dr. Michael Eßig (UniBw): Vergaberecht - ein Implementierungsproblem
Ein Nachgespräch zur 23. Beschaffungskonferenz 2022
Verwaltung der Zukunft: Sehr geehrter Herr Professor Eßig, können Sie kurz sich und Ihr Forschungsgebiet beschreiben?
Eßig: Wir arbeiten an der Universität der Bundeswehr München seit 20 Jahren an Themen der Beschaffung – unter dem Motto „Forschung und Lehre, um gut einzukaufen“. „Gut einkaufen“ steht dabei für ein strategisches Einkaufsverständnis, das Themen wie Innovation und Digitalisierung, Nachhaltigkeit und den Wertbeitrag des Einkaufs für den Organisationserfolg in den Mittelpunkt stellt. Mit zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern versuchen wir, exzellente Forschung mit Anwendungsorientierung und dem Austausch mit der Praxis zu verbinden. Organisatorisch sind wir in drei sektorale Forschungsgruppen aufgestellt, die industrielle und öffentliche Beschaffung sowie den Verteidigungssektor adressieren.
VdZ: Beschaffung in der Bundeswehr - Was hat sich getan, seit der 23. Beschaffungskonferenz im zurückliegenden September?
Eßig: Die strukturelle Unterausstattung der Bundeswehr wurde mit dem Sondervermögen erstmals adressiert. Dabei stand und steht jedoch primär die Frage im Vordergrund, ob überhaupt beschafft werden kann. Nun muss schnell und zeitnah geklärt werden, was wie von wem konkret zu beschaffen ist. Dazu liegt dem Sondervermögensgesetz ein Wirtschaftsplan bei, der die wesentlichen Projekte definiert – als Ergebnis militärischer wie verteidigungs- und industriepolitischer Überlegungen. Um den Vergabeprozess zu beschleunigen, hat der Deutsche Bundestag zudem das Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz beschlossen. Ob und wie damit die Beschaffung tatsächlich beschleunigt wird bzw. beschleunigt werden kann, ist noch offen – empirische Befunde liegen dazu jedenfalls derzeit noch nicht vor.
VdZ: Herr Professor Eßig, damit kommen wir auf einen Kerngedanken der Beschaffungskonferenz zu sprechen: Zeit ist der Faktor, für den sich Deutschland politisch entscheiden musste. Wirkt dieser Faktor bereits in der Umsetzung?
Eßig: Das Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz alleine kann nicht garantieren, dass es tatsächlich schneller geht – es formuliert aber sehr deutlich den politischen Anspruch, dass es schneller gehen muss. Man darf nicht vergessen, dass die VSVgV auch bisher schon die Möglichkeit gegeben hat, Geschwindigkeit zu priorisieren - § 34 Abschnitt 2 Ziffer 8 nennt „Lieferfrist oder Ausführungsdauer“ explizit als mögliches Zuschlagskriterium. Das Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz geht noch einen Schritt weiter und fordert die Priorisierung der Beschaffung „am Markt verfügbare[r] Leistungen und Produkte“ (§ 3 Abschnitt 7 Satz 1 BwBBG). Das setzt jedoch intensive Markterkundungsverfahren einerseits und die Verfügbarkeit dieser Lösungen andererseits voraus. Es ist ein ausgesprochen wirksamer Hebel, da langwierige Entwicklungsverfahren entfallen. Aber auch diese Güter stehen nicht „im Regal“, sondern müssen erst produziert werden – und angesichts globaler Lieferprobleme (Stichwort „Chipkrise“) kann auch eine Sicherheits- und Verteidigungsindustrie nicht ohne entsprechenden Vorlauf liefern, zumal in den letzten Jahren Kapazitäten insbesondere in Deutschland und Europa eher abgebaut wurden.
VdZ: Ein Wort zum Begriff der Verteidigung. Dieser hat eine ganz akute Stärkung erhalten. Wie sehr werden wir neben der nationalen Industrie auf internationale Märkte zugreifen müssen?
Eßig: In der Tat bedeutet der gerade genannte Punkt „marktverfügbarer Lösungen“ eine Orientierung am europäischen bzw. am NATO-Lieferantenmarkt. Rüstungsmärkte sind letztlich auch Märkte, selbst wenn die Zahl der Lieferanten und damit der potentiellen Bieter immer überschaubar bleibt. Gleichzeitig ist der Erhalt einer nationalen bzw. europäischen Lieferantenbasis auch eine industrie- und verteidigungspolitische Entscheidung – aus Einkaufsperspektive ist ein größtmöglicher Wettbewerb wünschenswert, will man die „Kräfte des Marktes“ positiv ausnutzen. Letztlich läuft es auf die Entwicklung und Umsetzung einer konsistenten Beschaffungsstrategie hinaus.
VdZ: Wagen wir nun einem Wurf nach vorn: Wie heißen die 3 nächsten Entscheidungen, die wir für einen nachhaltigen Erfolg in der Bundeswehrbeschaffung brauchen?
Eßig: Bundeswehrbeschaffung ist technisch komplex – es geht um hochmoderne, innovative Waffensysteme. Aber muss sie auch organisatorisch komplex sein? Am Ende zahlen wir für alles einen „Preis“ im Dreieck Kosten, Zeit und Qualität. Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir im Vergaberecht viel weniger ein Regulierungs- als ein Implementierungsproblem haben. Daher würde ich an drei Punkten ansetzen:
1. Etablierung eines strategischen Beschaffungssystems: Das Handwerkszeug, eine strategische, an der Gesamtwirtschaftlichkeit und nicht am „billigsten Angebot“ orientierte Beschaffung zu betreiben, steht prinzipiell zur Verfügung. Das Vergaberecht ermöglicht bereits heute die Berücksichtigung strategischer Ziele wie Innovation, Nachhaltigkeit und eben auch Geschwindigkeit.
2. Nutzung der „Kraft des Wettbewerbs“: Das Vergaberecht verlangt im Kern die Vergabe an das wirtschaftlichste Angebot in einem wettbewerblichen Verfahren. Diesen Wettbewerb gibt es durchaus auch für Rüstungsgüter. Selbst die Mittel des Sondervermögens sind endlich – will man diese bestmöglich nutzen, muss eine Anlehnung an kommerzielle Standards möglich sein.
3. Nutzung etablierter Instrumente einer strategischen Beschaffung: Am Ende geht es um ein ausgewogenes Portfolio aus militärischer Spitzentechnologie und „Standardprodukten“ immer da, wo eben keine Eigen- und Neuentwicklung aus Perspektive des Militärs mehr erforderlich ist. Dazu gibt es mit dem Strategieportfolio in der Beschaffung ein etabliertes und bewährtes Instrument, das möglichst frühzeitig im Beschaffungsprozess eingesetzt werden sollte („Early Purchasing Involvement“). So wird für Standardgüter eine effizienzorientierte Strategie vorgeschlagen, die auf effiziente, transaktionskostenarme, in der Regel volldigital ablaufende Einkaufsprozesse setzt – während Spitzentechnologie über eine effektivitätsorientierte, innovationsgetriebene Beschaffungsstrategie eingekauft wird. Nicht zuletzt hat bspw. die Europäische Kommission mit ProcurCompEU einen Kompetenzrahmen vorgelegt, der primär darauf abzielt, die anspruchsvollen Aufgaben eines strategischen öffentlichen Einkaufs mit Leben füllen zu können – auch hier kommt es in erster Line darauf an, ein existierendes Instrument tatsächlich zu implementieren.
Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir im Vergaberecht viel weniger ein Regulierungs- als ein Implementierungsproblem haben.