„Den aktuellen Stand und das richtige Tempo für die eigene Behörde finden“
Reifegradmodell zeigt individuelle Schritte zur digitalen Weiterentwicklung / Interview mit Gartner-Analyst Mickoleit
Verwaltung der Zukunft: Herr Mickoleit, inwieweit stehen Behörden unter Druck, ihre Arbeit schnell zu digitalisieren? Wen betrifft Digitalisierung?
Mickoleit: Das ist in jedem Fall anders. Manche Behörden sind gezwungen, ihre Prozesse möglichst schnell zu digitalisieren, andere können sich Zeit lassen. Polizeibehörden stehen beispielsweise unter hohem Digitalisierungsdruck, da sich auch Kriminalität zunehmend im digitalen Raum abspielt. Große Teile des Apparates sind meiner Erfahrung nach auch tatsächlich bereit, andere Wege zu beschreiten, begrüßen die Erneuerung und greifen Technologien wie Blockchain frühzeitig auf.
Die französische Arbeitsagentur experimentiert bereits mit KI-basierten Algorithmen, um Job-Suchenden geeignete Unternehmen für Initiativbewerbungen vorzuschlagen.
VdZ: Wo geht es Ihrer Ansicht nach zu langsam voran?
Mickoleit: Die französische Arbeitsagentur – Agentur Pole Emploi – experimentiert bereits mit KI-basierten Algorithmen, um Job-Suchenden geeignete Unternehmen für Initiativbewerbungen vorzuschlagen. Auch andere nationale Job-Agenturen müssen dringend Digitalisierungsmaßnahmen ergreifen, da Monster, LinkedIn, Xing und andere kommerzielle Anbieter manchmal bereits als die besseren Partner bei der Job- und Talentsuche angesehen werden. Die Bereitschaft, Digitalisierung wirklich als Transformation anzupacken, ist aber in vielen Fällen (noch) zu gering.
VdZ: Sie haben ein „Reifegradmodell“ für den digitalen Entwicklungsstand von Organisationen entwickelt – was genau können Sie mit diesem Instrument erklären?
Mickoleit: Unser Reifegradmodell ist eine Hilfestellung für CIOs, um einzuschätzen, welcher Weg in die digitale Transformation für die eigene Behörde am geeignetsten ist und welche Ziele in einem kurz- bis mittelfristigen Rahmen realistisch erscheinen. Abhängig vom Digitalisierungsdruck und der Bereitschaft der Organisation bieten sich da ganz verschiedene Maßnahmen an.
VdZ: Wo holen Sie die verantwortlichen CIOs ab?
Mickoleit: CIOs müssen immer zuerst wissen, wo genau die eigene Behörde steht und wie die Belegschaft und andere „Stakeholder“ von den Vorteilen der Digitalisierung überzeugt werden können. Darauf aufbauend empfehlen wir kurz- und mittelfristige Maßnahmen für ein angemessenes „Digitalisierungstempo“. Im Grunde ist es einfach: Das Reifegradmodell hilft sowohl den Behörden als auch uns, ein Gespräch darüber zu führen, wie wir uns für die digitale Zukunft besser aufstellen können.
VdZ: Welche Einrichtungen der öffentlichen Hand können das Modell nutzen?
Mickoleit: Das Modell ist sehr breit anwendbar, längst nicht nur im Kontext von innerer Sicherheit und Arbeitsmarkt. Auch die von der Bundesregierung geplante „e-Government Agentur“ könnte es verwenden, um die gesamte Bandbreite von Organisationen zu scannen und aus ähnlichen Fällen Synergie-Effekte zu erreichen. Im Grunde kann jede Behörde, egal ob auf Bundes-, Länder- oder kommunaler Ebene, das Modell nutzen, um Dringlichkeit, Bereitschaft und Reifegrad objektiv zu bewerten. Als Ergebnis stehen jeweils Empfehlungen darüber, welche Zielsetzungen und welcher Zeitrahmen für die Umsetzung am besten auf sie zugeschnitten sind.
Im Grunde kann jede Behörde, egal ob auf Bundes-, Länder- oder kommunaler Ebene, das Reifegradmodellmodell nutzen, um Dringlichkeit, Bereitschaft und Reifegrad objektiv zu bewerten.
VdZ: Und welche behördlichen Aufgaben eignen sich dafür, zügig automatisiert zu werden?
Mickoleit: Ein wichtiger Schritt wäre es, den Bürokratieaufwand für Bürger zu reduzieren. Wieso müssen Menschen heute noch beglaubigte Geburtsurkunden in Papierform vorlegen? Italien hat es den Behörden per Gesetz untersagt, solche Unterlagen einzufordern. In Estland hat man gar nicht erst mit solchen Urkunden angefangen.
Wieso müssen Menschen heute noch beglaubigte Geburtsurkunden in Papierform vorlegen? Italien hat es den Behörden per Gesetz untersagt, solche Unterlagen einzufordern.
VdZ: Das kleine Estland gleicht mit seinen rund 1,3 Mio. Einwohnern einer Stadt wie München, wird aber immer wieder der gesamten Bundesrepublik gegenüber gestellt. Ein passender Vergleich?
Mickoleit: Natürlich wird das estnische Beispiel im deutschen Diskurs manchmal etwas überstrapaziert. Aber wieso sollten Bürger mit Anspruch auf Leistungen es nicht leichter haben und Antragsformulare bereits mit Rahmendaten vorausgefüllt erhalten? Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel: In Deutschland müssen Eltern Kindergeld explizit beantragen. Das bedeutet Formulare, Postweg und Bürokratie zu einem Zeitpunkt, zu dem man eher wenig Zeit und Energie dafür hat. In Irland sieht sich der Staat in der Pflicht und sendet den Eltern einen vorausgefüllten Antrag nach Hause. Und es geht noch besser: Wenn die Behörde bereits alle erforderlichen Daten hat, im Allgemeinen bei der Geburt des zweiten Kindes, wird das Kindergeld einfach automatisch gewährt.
In Irland sieht sich der Staat in der Pflicht und sendet den Eltern einen vorausgefüllten Antrag nach Hause. Wenn die Behörde bereits alle erforderlichen Daten hat, im Allgemeinen bei der Geburt des zweiten Kindes, wird das Kindergeld einfach automatisch gewährt.
VdZ: Sehen Sie hinter Beispielen wie diesen auch breitere Ansätze?
Mickoleit: Die Beispiele aus unseren Nachbarländern gehen auch über einzelne Dienstleistungen hinaus. Das Vereinigte Königreich hat mit GOV.UK eine zentrale Stelle im Netz geschaffen, die Zugang und Informationen zu allen Schnittstellen zwischen Staat und Bürger bietet: Steuern, Wahlen, Bildung, Arbeit und vieles mehr. In Frankreich gibt es eine Beta-Version einer nationalen digitalen Plattform zur rechtskonformen Verwendung von Drohnen – Hersteller, Besitzer und Behörden werden allesamt einbezogen, um die Umsetzung und Einhaltung nationaler Gesetzgebung zu erleichtern.
VdZ: Welche digitale „Erfolgsgeschichten“ fallen Ihnen spontan in der Bundesrepublik ein?
Mickoleit: Natürlich gibt es auch hier einzelne Erfolgsgeschichten. Die Behörden-Hotline 115 ist ein tolles Beispiel dafür, wie Verwaltung näher und zugänglicher für die Bürger sein kann. Dahinter stehen eine digitale Plattform, eine gemeinsame und stetig wachsende Datenbasis und vor allem sehr viel Bereitschaft, den Föderalismus in Deutschland nicht ständig als unüberwindbare Hürde der Digitalisierung darzustellen.
Das Vereinigte Königreich hat mit GOV.UK eine zentrale Stelle im Netz geschaffen, die Zugang und Informationen zu allen Schnittstellen zwischen Staat und Bürger bietet.
VdZ: Und wie schätzen Sie die aktuelle Gesamtlage ein? Setzt die schwarz-rote Koalition die richtigen Hebel in Bewegung?
Mickoleit: Leider ist das Gesamtbild weiterhin trüb. Die Bundesregierung hat erkannt, dass Handlungsdruck besteht, da Deutschland nicht in der „Champions League“ digitaler Verwaltungen mitspielt. Es gibt noch kein Digitalministerium wie bei unseren österreichischen Nachbarn, aber mit Dorothee Bär zumindest schon eine Staatsministerin für Digitalisierung. Und die geplante „e-Government Agentur“ hat zwar einen etwas ungeschickten Namen – denn e-Government war der Hit vor 15 Jahren – aber ich möchte doch glauben, dass sie einen entscheidenden Beitrag hin zu einer moderneren deutschen Verwaltung leisten wird.