Gesellschaftlicher Dialog Öffentliche Sicherheit
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„Mindsetting neu kalibrieren“

Gesellschaftlicher Dialog Öffentliche Sicherheit / 300 Teilnehmer diskutieren virulente Fragen / Sicherheitsarchitektur im Fokus

Die bestehende Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik ist kaum mehr ausreichend, kann aber nicht „mal eben“ neu aufgesetzt werden. Die Strukturen müssen im Bestand modernisiert – viele sagen: saniert – werden. Der erste Gesellschaftliche Dialog Öffentliche Sicherheit fand wegen dieses dringenden Anliegens Anklang bei rund 300 Teilnehmern, darunter viele hochkarätige Referenten aus den Sicherheitsbehörden.

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Inhalt dieses Artikels

  • Um-/Neubau der Sicherheitsarchitektur
  • (Neu-)Interpretation des Trennungsgebots
  •  Einbezug kommunaler Ordnungsdienste  
  • Harmonisierung der Polizeigesetze der Länder
  • Verantwortung und Veränderungswille in der Politik 
  • Kommunikation und mediale Arbeit gegenüber den Bürgern
  • Einstellung der Gesellschaft gegenüber Sicherheitsbehörden

 

Mindestens gilt: „Die deutschen Sicherheitsbehörden arbeiten weder effizient noch effektiv zusammen.“ Im Grunde ist diese Erkenntnis hinlänglich beschrieben und in den letzten Jahren durch punktuelle Ereignisse genauso wie längerfristige Entwicklungen oft untermauert worden. Die einfache Problemanalyse: Es liegt an der übergroßen Zahl verschiedener Zuständigkeiten. Das ist schon mal nicht einfach, sondern überaus schwierig. 

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Das ist keine Spinner-Idee, sondern bei den Aufgaben der Luftsicherheit bereits praktiziert.

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Gerhard Schindler, BND-Chef a. D.

Schwarmintelligenz? Nicht im Föderalismus…

„Uns geht es einfach noch zu gut!“ Der frühere BND-Präsident Gerhard Schindler muss kein Blatt mehr vor den Mund nehmen und zeigte sich mit Blick auf die Reformfähigkeit „desillusioniert“. Er sieht keinen großen Plan, höchstens Stückwerk hier und da. Zwar gebe es Gremien, in denen Bund und Länder gemeinsam am Tisch sitzen, das bringe aber nichts. „Schwarmintelligenz können Tiere, nicht aber Menschen“, sagte Schindler. In der Abstimmung zwischen so vielen Behörden brauche es klare Abstimmung und Führung sowie einen vernünftigen Rechtsrahmen.

Schindler: Optionsmodell à la Luftsicherheit 

Zur Erinnerung: Der Bund und die Länder werkeln mit insgesamt 40 Behörden „mehr oder oft auch weniger“ an der Sicherheit. Für den Verfassungsschutz („es gibt hier zu viele kleine, wenig leistungsfähige Landesämter“) schlägt Schindler deshalb ein „Optionsmodell“ vor: Länder sollen ihre Kompetenz freiwillig an den Bund abtreten können. „Das ist keine Spinner-Idee, sondern bei den Aufgaben der Luftsicherheit bereits praktiziert.“ Und durch das Bundesverfassungsgericht juristisch bestätigt, unterstrich der Ex-Geheimdienstchef.

Auf dem Podium (v. l. n. r.): Dr. Daniela Lesmeister, Abteilungsleiterin im NRW-Innenministerium; Armin Schuster, MdB, CDU; Gerhard Schindler, BND-Chef a. D.; Moderator Dr. Markus Hellenthal, Capgemini; Stephan J. Krämer, Präsident Thüringer Verfassungsschutz; Irene Mihalic, MdB, Grüne; Sebastian Fiedler, stellv. Vorsitzender Bund Deutscher Kriminalbeamter.
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Es knackt, knirscht und kracht - aber nicht nur in den Ländern.

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Stephan J. Kramer, Thüringer Verfassungsschutzpräsident

Mitteldeutscher Verfassungsschutz denkbar

„Es knackt, knirscht und kracht“, gab Thüringens Verfassungsschutzpräsident Stephan J. Kramer zu, „aber nicht nur in den Ländern.“ Im Fall Amri habe sich keine Behörde mit Ruhm bekleckert. Kramer zeigte sich in vielen Punkten allerdings offen für Reformideen. So ist für ihn eine Fusion der mitteldeutschen Verfassungsämter grundsätzlich denkbar, weil sie sich in Struktur und Größe ähneln. Konzentration hat dort Sinn, wo es darum geht gute Leute („nicht mehr die Besten der Besten, aber auch nicht die Schlechtesten der Schlechten“) anzuwerben. Das sind für Kramer etwa die Bereiche IT und Spionage.

„Im Bereich Extremismus haben wir dagegen Vorteile in den Ländern – da sind wir viel näher dran als Köln oder Berlin.“ Gegenüber der Politik will Kramer künftig „Ross und Reiter“ nennen. Auch das Trennungsgebot muss aus seiner Sicht lockerer interpretiert werden – der Verfassungsschutz dürfe nur nicht zur „Hilfspolizei“ degradieren.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Armin Schuster ist überzeugt: Es braucht einen großen Plan und eine Neujustierung der Sicherheitsbehörden.
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Seit der Alliierten-Regelung in den vierziger Jahren tragen wir das Trennungsgebot wie eine Monstranz vor uns her.

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Armin Schuster, MdB, CDU

Ran an das Trennungsgebot!

„Lasst uns das endlich mal neu formulieren!“ Der CDU-Bundestagsabgeordnete Armin Schuster will einen Schritt weitergehen. „Seit der Alliierten-Regelung in den vierziger Jahren tragen wir das Trennungsgebot wie eine Monstranz vor uns her.“ Das habe im Falle von NSU und Amri zu erheblichen Problemen geführt, unterstrich der langjährige Polizeiführer. Für Schuster ist ganz und gar unklar, wann Gefahrenabwehr eigentlich beginnt und zu welchem Zeitpunkt noch „Gefahrenvorfeld“ herrscht bzw. wie dazwischen überhaupt eine geregelte „Übergabe“ erfolgen kann. Wie damit umgehen?

Tausende neue Stellen

Für Bundesinnenstaatssekretär Hans-Georg Engelke sind neue Gesetze nur die zweitbeste Lösung. In erster Linie sieht der Jurist die Aufgabe, Staat und Institutionen in der bestehenden Situation mit ausreichend Personal, Instrumenten und immer stärker auch mit Technik auszustatten. Dafür stehen die Zeichen positiv: Laut Koalitionsvertrag soll es 7.500 neuen Stellen für die Sicherheitskräfte geben. Auch die Länder werden aufgefordert, entsprechend aufzustocken. Engelke ist guter Hoffnung, dass beim Bund tatsächlich mehrere tausend Stellen geschaffen werden – geplant ist u. a. eine neue Abteilung zur Terrorismusabwehr beim Bundeskriminalamt (BKA). Gleichwohl sprach der Staatssekretär davon, maßhalten zu wollen. Der Justizbereich müsse ebenso gestärkt werden, damit Verhaftungen auch zu Verurteilungen führen könnten.

Übergreifende Aufgaben aus den Ländern stärker in seine Behörde verlagern: Peter Henzler, Vizepräsident des Bundeskriminalamtes (BKA)
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Neue „skalierbare Abteilung“ beim BKA

Mit der neuen „skalierbaren“ Abteilung sollen mehr Aufgaben der konkreten Gefahrenabwehr in Wiesbaden konzentriert werden. Ziel sei ein übergreifendes Management, in dem das BKA zentrale Unterstützungsleistungen erbringe, erklärte BKA-Vizepräsident Peter Henzler. In den Ländern sollen die teils erschöpften Kapazitäten so weitaus stärker genutzt werden, um Gefährder zu beobachten. „Ziel ist es, dass wir nicht nur eine Gefährdungslage bekommen – einen Sachverhalt über Gefährlichkeit und Eintrittswahrscheinlichkeit –, sondern auch die Gefährder betrachten und einschätzen.“ Um dafür einheitliche und wissenschaftliche Kriterien festzulegen, hat das BKA gemeinsam mit der Forensischen Psychologie an der Universität Konstanz das Programm „Radar-iTE“ entwickelt.

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Ziel ist es, dass wir nicht nur eine Gefährdungslage bekommen, sondern auch die Gefährder betrachten und einschätzen.

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Peter Henzler, BKA-Vizepräsident

Radar-iTE  und AG Risikomanagement im GTAZ

Seit Ende letzten Jahres stehen diese Verfahren zur Risiko-Analyse einzelner Personen zur Verfügung. Henzler: „In den Bundesländern ist jeder Gefährder Gegenstand einer Fallkonferenz.“ Polizei, Sozialämter, Ausländerbehörden – alle zuständigen Einrichtungen seien vor Ort damit befasst, entsprechende Personen in ihrer Gefährlichkeit einzuschätzen. Diese Informationen werden dann in der „AG Risikomanagement“ im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ) zentral zusammengeführt und mit entsprechenden Maßnahmen versehen. Henzler betont, dass die Zuständigkeit weiterhin an den Wohnsitz der Personen und damit ein Bundesland geknüpft ist. Seine Behörde sei nur in wenigen Ausnahmetatbeständen zuständig. Das soll sich ändern – um das System aber wirklich zu verbessern, braucht es laut Henzler einheitlichere Polizeigesetze (siehe Graphik).

Die Polizeigesetze der Länder unterscheiden sich in einigen Bereichen und erschweren eine übergreifende Arbeit.
© Bundeskriminalamt

Mehr Befugnisse über Polizeigesetze regeln

„Nordrhein-Westfalen hatte im Fall Amri keine Befugnis Gefahrenabwehr durch Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) umzusetzen. Ebenso wenig die Kollegen in Berlin.“ Henzler betonte zudem die Notwendigkeit, „Quellen-TKÜ“ vorzunehmen. Dabei geht es darum, Handys so zu manipulieren, dass Messenger-Nachrichten schon ausgelesen werden können, bevor sie durch den Provider verschlüsselt werden. „Das sind einzelne Wespenstiche, keine Massenverfahren.“ Es gehe nicht um flächendeckende Kommunikationsüberwachung, denn jedes Smartphone müsse je nach Hersteller, Modell und Software individuell und aufwändig behandelt werden.    

Hochkarätig besetzt: Über die gesellschaftliche Anerkennung der Sicherheitsbehörden diskutierten u. a. (v. l.): Prof. Dr. Anna Daun, Hochschule für Wirtschaft und Recht, Berlin; Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär im Bundesinnenministerium; Dr. Barbara Slowik, Polizeipräsidentin Berlin.
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„Polizei 2020“ soll entlasten

Innenstaatsekretär Engelke weist in die gleiche Richtung. „Es kann nicht sein, dass wir immer tauber und blinder werden.“ Von Messenger-Diensten bis hin zum autonomen Fahren und dem Internet der Dinge (IoT) brauche es entsprechende Anpassungen, um Schritt halten zu können. „Mit „Polizei 2020“ gibt es ein Programm, das die Polizeiarbeit in Deutschland grundlegend verändern wird“, so Engelke. „Wir wollen, dass die Polizistinnen und Polizisten dadurch von Verwaltungsaufgaben entlastet werden.“ Für die Anschubfinanzierung habe der Haushaltsgesetzgeber gesorgt. Die weitere Harmonisierung der IT-Systeme soll über den „Polizei-IT-Investitionsfonds“ laufen. Auch hier dürfe die Justiz jedoch nicht außen vor bleiben, um den Datenaustausch mit Staatsanwaltschaften und Gerichten zu gewährleisten, betonte Engelke. Auf der anderen Seite müssten kommunale Stellen besser eingebunden werden, um Terroranschlägen präventiv zu begegnen. Das ist bislang ein Problem.

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Es kann nicht sein, dass wir immer tauber und blinder werden.

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Hans-Georg Engelke, Staatssekretär im Bundesinnenministerium
Bundesinnenstaatssekretär Hans-Georg Engelke: Programm "Polizei 2020" soll Beamte von bürokratischen Aufgaben entlasten.
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Kommunale Ordnungsdienste einbeziehen

In der Vergangenheit wurde sehr viel nebeneinander gearbeitet: Polizei, kommunale Ordnungsbehörden, Feuerwehr haben sich kaum untereinander vernetzt, weiß Dr. Daniela Lesmeister, frühere  Beigeordnete für Sicherheit in Duisburg und heutige Abteilungsleiterin „Polizei“ im NRW-Innenministerium. Dann der Fall Amri – eine  Zäsur! Am Morgen danach habe die Stadtspitze sofort Kontakt zur Polizei aufgenommen. Das Ziel: den Duisburger Weihnachtsmarkt so schnell und gut wie möglich zu schützen. „In der Folge wurden dann Konzepte erarbeitet, wie im Falle eines Anschlags zusammen gearbeitet werden kann.“ Genauso wichtig wie die Vernetzung stuft Lesmeister auch die Bedeutung tatsächlicher Verantwortungsübernahme ein. Die Zuständigkeiten seien ausreichend beschrieben, sie müssten im Zweifelsfall aber übernommen werden. „Wenn wir das hinbekommen, sind wir schon einen ganzen Schritt weiter.“ 

Sieht den Staat, nicht die Kommunen bei der Finanzierung der Terrorismusabwehr in der Pflicht: Düsseldorfs Oberbürgermeister Thomas Geisel.
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Wir können nicht zulassen, dass bestimmte Schichten der Bevölkerung anderen den Respekt versagen und die Gesellschaft spalten.

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Thomas Geisel, Düsseldorfer Oberbürgermeister

Mit Bürgern kooperieren

Noch einen Schritt weiter will Düsseldorfs Oberbürgermeister Thomas Geisel. Ziel in der Landeshauptstadt ist es, salafistischen Einfluss durch Partnerschaften zwischen Ordnungsbehörden und zivilgesellschaftlichen Gruppen zu begegnen. „Wir können nicht zulassen, dass bestimmte Schichten der Bevölkerung anderen den Respekt versagen und die Gesellschaft spalten.“ So habe es Vorfälle gegeben, in denen Kinder andere islamische Kinder davon abbringen wollten beim Martinsumzug mitzulaufen. Zusammen mit Lehrern und Sozialarbeitern gelte es Multiplikatoren für die Sache zu gewinnen und einzubinden. Selbst in Schulklassen und Quartieren mit Quoten von bis zu 80 Prozent Muslimen seien immer auch gut integrierte Zuwanderer zu finden, sagte Geisel.

Während das Stadtoberhaupt diese Aufgaben für „klassisch kommunal“ hält, unterstrich Geisel ebenso, dass die Kosten für Maßnahmen zur Terrorabwehr vom Staat übernommen werden müssten. Bei Großereignissen wie dem Düsseldorfer Karnevalsumzug oder dem jährlichen „Japan-Tag" sei in diesen Zeiten eine hohe Polizeipräsenz genauso wichtig wie deren Finanzierung durch Land und Bund. 

Mehr Austausch zwischen Kommunen und staatlichen Sicherheitsbehörden: Tübingens OB Boris Palmer und BND-Vize Klaus Müller im Gespräch.
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Die Dinge transparent machen – an Spanien orientieren

„Wir haben in den letzten drei Jahren mehr an unserer Sicherheitsarchitektur verändert als in den letzten 20“, sagte Monika Hohlmeier (CSU), Mitglied im Europäischen Parlament. „Und wir sind immer noch im Nachholprozess.“ Weiterhin werden vorzeigbare Erfolge der Sicherheitsbehörden kaum gezeigt und die Öffentlichkeit zu wenig eingebunden. „Kommunizieren wir es lieber nicht, weil es die Bevölkerung ja beunruhigen könnte“ – dieses Credo gehöre abgeschafft, erklärte die frühere bayerische Kultusministerin und beruft sich dabei auf das Beispiel Spaniens.

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Die Bevölkerung muss wissen, warum es Geheimdienste gibt, welche Aufgaben sie haben und wie sie in etwa arbeiten.

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Monika Hohlmeier, CSU, Mitglied im Europäischen Parlament

Die Menschen fühlen sich verantwortlicher

Schon 2005 haben die Sicherheitsbehörden dort im Kampf gegen die ETA einen Strategiewechsel vollzogen und die Bevölkerung in die Diskussion eingebunden. „Die Menschen fühlen sich stärker als verantwortlicher Teil einer Sicherheitskette, sie sehen und melden mehr.“ Auch hierzulande gebe es erste Schritte in diese Richtung. „Ich finde es sehr positiv, dass der Verfassungsschutz mittlerweile nicht nur mit Pressemitteilungen an die Öffentlichkeit geht, sondern auch mit Interviews.“ Mit Blick auf den BND wünscht sich die CSU-Politikerin dasselbe. „Die Bevölkerung muss wissen, warum es Geheimdienste gibt, welche Aufgaben sie haben und wie sie in etwa arbeiten.“ Auf diese Weise könnte auch das Verständnis zunehmen, wenn mal etwas schief läuft. Offene Fehlerkultur statt „Bashing“? Die Realität sieht anders aus.  

Mehr Kommunikation der Geheimdienste gegenüber der Bevölkerung wünscht sich Monika Hohlmeier, Abgeordnete im Europaparlament.
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Anerkennung – ein zweischneidiges Schwert

Natürlich gibt es sie, diese Ereignisse, zuletzt im Mai im niedersächsischen Hitzacker:  Etwa 60 „Demonstranten“ versammelten sich vor dem Haus eines Polizeibeamten, der zuvor an einem Einsatz beteiligt gewesen war. „Police Outing“, so nennt sich die Preisgabe der Adresse eines Einsatzbeamten im Netz. Innenstaatssekretär Engelke zeigte sich bestürzt: „Ich sehe das als Zeichen der Verrohung im gesellschaftlichen Miteinander.“ Es gehe nicht nur um den Polizisten allein, sondern auch um seine Familie. „Eine massive Bedrohung für diejenigen, die sich für unsere Sicherheit einsetzen.“ Solche Versammlungen sind die Spitze unzähliger Anfeindungen, die regelmäßig im Internet kursieren

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Wir brauchen psychologische Mechanismen im Netz, die uns einen Spiegel vorhalten.

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Dr. Catarina Katzer, Institut für Cyberpsychologie und Medienethik, Köln

Täter und Opfer immer jünger

Dr. Catarina Katzer vom Kölner Institut für Cyberpsychologie und Medienethik machte auf die digitalen Formen psychischer Gewalt aufmerksam – und warb für mehr Prävention. Egal, ob „Cyber-Grooming“ (Anbahnung sexueller Delikte im Netz), „Cyber-Mobbing“, Gewalt- oder extremistische Darstellungen – die Tendenz steigt, über das Netz persönlich angegriffen zu werden oder betroffen zu sein. „Wir haben eine ganz neue Problemzone, die nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder angeht.“ Täter und Opfer werden laut Katzer immer jünger, viele Taten wirkten im Cyber-Raum zudem weitaus stärker.

Dr, Catarina Katzer nahm in ihrem Votrag neue Probleme wie "Cyber-Grooming" und "Cyber-Mobbing" in den Fokus.
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Algorithmen gegen Gewalt

Denn Menschen nähmen ihr Verhalten im Netz anders wahr: Verantwortung wird in die Breite verlagert. Potenzielle Opfer sind weit weg – es fehlt an digitaler Empathie. Zudem sind Inhalte oft schwer zu löschen oder können durch Zwischenspeicherungen und Screenshots immer wieder auftauchen. Gleichzeitig gehen Nutzer mit Informationen viel freizügiger um als in der analogen Welt. „Wir brauchen psychologische Mechanismen im Netz, die uns einen Spiegel vorhalten.“ Katzer verweist auf Untersuchungen, die gezeigt hätten, dass eine solche „digitale Konfrontation“ Täter von Hassreden und -kommentaren abhalten könnte. Das reicht der Psychologin aber noch nicht: „Ich glaube, dass wir Algorithmen gegen Gewalt brauchen.“ Die Wissenschaftlerin empfiehlt zudem, Ermittlungsverfahren durch psychologische Methoden und Künstliche Intelligenz zu verbessern. In Deutschland sei es nicht erlaubt, digitale Lockvögel im Bereich von Kinder-Pornographie einzusetzen, andere Staaten setzten dieses Mittel ein. Und hätten auch längst – wie im Fall der Niederlande – ein Cyber-Mobbing-Gesetz verabschiedet, das durch entsprechende Lehrinhalte in den Schulen flankiert wird.  

"Wir haben jetzt schon 20.000 Bewerber." Der Chef der Bundespolizei, Dr. Dieter Romann, sieht aktuell keine Nachwuchsprobleme für seine Behörde.
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Terrorabwehr geteilt durch 17

Es bleibt die Riesenfrage: Ist die Bundesrepublik wirklich richtig aufgestellt, wenn die Verantwortung der Terrorabwehr auch künftig durch 17 geteilt wird? Und noch so eine: Ist es richtig, dass die Bundespolizei in ihren originären Aufgaben nicht auftenhaltsrechtlich tätig werden darf? Wer kennt es nicht: die Übergabe von Personen an Bahnhöfen zwischen den Polizeien. Genau auf diese Wunde legte  Dr. Dieter Romann den Finger.

Bislang ist die Bundespolizei nicht zur Bekämpfung des unerlaubten Aufenthaltes berechtigt. Das galt auch im Fall Amri, sagte der Präsident der Bundespolizei. „Wären wir zuständig gewesen, hätten wir Abschiebehaft anordnen und innerhalb von sechs oder acht Wochen, spätestens aber nach drei Monaten nach Tunesien abschieben können.“ Es wäre wohl nicht zum Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz gekommen.

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Die Bundespolizei benötigt in ihren sachlichen und örtlichen Zuständigkeitsbereichen parallel zu den Ländern die repressive Zuständigkeit auch für die Bekämpfung des unerlaubten Aufenthalts.

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Dr. Dieter Romann, Chef der Bundespolizei

Gesamtstaatliche Ergänzung

Ob Grenzraum, Bahnhöfe oder Flughäfen: „Die Bundespolizei benötigt parallel zu den Ländern, in ihren sachlichen und örtlichen Zuständigkeitsbereichen die repressive Zuständigkeit, auch für die Bekämpfung des unerlaubten Aufenthalts“, fordert Romann. „Dann sind wir in der Lage, in solchen Fällen auch eine Absicherung der Abschiebung umzusetzen. Es gehe um eine gesamtstaatliche Ergänzung parallel zu den Ländern. „Wir nehmen den Ländern nichts weg.“ Denn aktuell gebe es über 230.000 unmittelbar ausreisepflichtige Staatsangehörige bei gerade einmal knapp 450 Abschiebehaftplätzen. „Das funktioniert schon rein rechnerisch nicht.“ Mit über 12.000 neuen Planstellen und mehr als 20.0000 Bewerbern  sieht sich der Behördenchef gut aufgestellt, künftig auch erweiterte wahrzunehmen.     

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Ich glaube, dass dieses Land gerade wegen des föderalen Aufbaus, wegen der Vernetzungsprobleme einen nationalen Sicherheitsplan braucht!

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Armin Schuster, MdB, CDU-Innenpolitiker

Die Engländer nennen es nationale Sicherheitsstrategie

„Was für eine Verschwendung von Ressourcen!“ Auch Armin Schuster ließ auf der Berliner Veranstaltung nicht locker und kritisierte die bisherige Bund-Länder-Regelung. Der CDU-Bundestagsabgeordnete, der dem Untersuchungsausschuss zum Anschlag auf den Breitscheidplatz vorsitzt, pocht darauf, endlich tabula rasa zu machen. „Ich glaube, dass dieses Land gerade wegen des föderalen Aufbaus, wegen der Vernetzungsprobleme einen nationalen Sicherheitsplan braucht!“ Die Engländer nennen es nationale Sicherheitsstrategie – in vielen angelsächsischen Ländern gehöre das „quasi zur Kultur“, so Schuster. Also ein klares gemeinsames Zielbild. „Ich sage es aber ganz frei heraus: Niemand in Regierungsverantwortung möchte dazu schriftliche Erklärungen abgeben, die man danach messen könnte.“ Deshalb verhalle diese Forderung immer wieder, so der Abgeordnete. Ohne eine „Kalibrierung des Mindsettings“ komme man aber mit 40 Sicherheitsbehörden nicht weiter. Ähnlich sieht das Irene Mihalic.

Irene Mihalic, Grünen-Bundestagsabgeordnete, fordert periodische Sicherheitsberichte.
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Wenn wir eine Beratungsbasis jenseits der polizeilichen Kriminalstatistik hätten, dann würde relativ schnell klar, wo strukturelle Veränderungen nottun.“

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Irene Mihalic, MdB, Die Grünen

Politik aus dem Bauch heraus

Die Bundestagsabgeordnete der Grünen will überhaupt nicht von einer „Architektur“ sprechen, weil das einen „geordneten Aufbau“ unterstelle. Aufgrund der unübersichtlichen Lage mit diversen sicherheitstechnischen An- und Umbauten seit 1945 fordert die Innenpolitikerin eine Inventur. „Wir haben im Moment immer singuläre Ereignisse, auf die die Politik mit Gesetzesvorschlägen reagiert.“ Eine wirkliche Bestandaufnahme zum Beispiel in Form eines periodischen Sicherheitsberichtes hat es seit 2006 nicht mehr gegeben. Ob Jahreswirtschafts-, Bildungs- oder Armutsbericht, in jeglichem Politikfeld gebe es heute wissenschaftliche Entscheidungsgrundlagen. In der Sicherheit allerdings, die partei- und gesellschaftsübergreifend als enorm wichtig angesehen werde, gebe es das nicht. „Wir machen ein Stück weit Politik aus dem Bauch heraus - ich finde das offen gestanden sehr, sehr fahrlässig!“, so Mihalic. „Wenn wir eine solche Beratungsbasis jenseits der polizeilichen Kriminalstatistik hätten, dann würde relativ schnell klar, wo strukturelle Veränderungen nottun.“

 

Mehr Bestandsaufnahme wagen
Diskussionsrunde Gesellschaftlicher Dialog Ethik & Digitalisierung; Prof. Arndt Sinn

Mehr Bestandsaufnahme wagen

Prof. Sinn: Zu wenig politischer Wille, um Sicherheitsarchitektur zurechtzustutzen / Organisierte Kriminalität stärker bekämpfen