Zwei Seiten einer Medaille: Zivil-Militärische Zusammenarbeit
Interview mit Christian Seel zum GRÜNBUCH ZMZ 4.0
Verwaltung der Zukunft: Wie kam es zur Entstehung des Grünbuches ZMZ 4.0?
Christian Seel: Das Thema Zivil-Militärische Zusammenarbeit, kurz ZMZ, wird aktuell in vielen Bereichen diskutiert. Klar ist, dass es in diesem Bereich keine einfachen Antworten gibt. Dennoch brauchen wir Lösungen, die praxisorientiert sind und vor allem zu Ergebnissen kommen. Über das Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit (ZOES e.V.) haben wir nach Expertinnen und Experten gesucht, die im Rahmen einer Kompetenzplattform zur Zivil-Militärischen Zusammenarbeit für gut ein Jahr zusammenfinden. Wohlwissend, dass jedes gelöste Problem neue Herausforderungen nach sich ziehen würde – wie bei einer Hydra, der an jeder abgeschlagenen Stelle mehrere Köpfe nachwachsen.
Als Moderator des Projekts war es mir wichtig, das Thema konsequent zu Ende zu denken und Lösungen zu formulieren, die praxisnah und realistisch umsetzbar sind. Genau darin lag die zentrale Leistung der Grünbuch-Redaktion: Ein erstes, szenarienbasiertes Konzept für die ZMZ 4.0 zu erarbeiten – in dem Wissen, dass wir manche Aspekte später erneut diskutieren oder anpassen müssen. Und zweitens, wir links und rechts das ein oder andere außen vor lassen müssen, weil ansonsten kein Ende in Sicht ist. Und ich glaube, das ist genau der Geist, der geherrscht hat, als wir diese Kompetenzplattform bespielt haben.
Ansonsten haben wir darauf geachtet, uns so divers wie möglich aufzustellen. Es macht keinen Sinn, nur Beamtinnen und Beamte, oder nur Vertreterinnen und Vertreter der Industrie, einzubinden. Am wichtigsten war es uns, Menschen von allen Seiten zu verbinden, die ihre Kompetenzen einbringen. Und ich glaube, da ist uns eine gute Melange gelungen.
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GRÜNBUCH ZMZ 4.0
VdZ: Wie oft sind Sie in dieser Runde innerhalb eines Jahres zusammengekommen?
Christian Seel: Zu Beginn haben wir uns einmal alle persönlich getroffen. Danach hatten wir spätestens alle sechs Wochen eine Videokonferenz. Wir haben uns Aufträge gegeben, haben dann in den jeweiligen Bereichen die Aufträge abgearbeitet und immer wieder diskutiert. Dann hatten wir im Spätsommer noch mal einen großen Workshop in Präsenz. Ende letzten Jahres gab es eine Schlussredaktionskonferenz im Kreise des Kernteams, um die Dinge zusammenzufassen. Und dann haben wir uns im kleineren Kreis getroffen und daraus ein Gesamtwerk gemacht.
Eine der größten Herausforderungen war, die Beiträge zu vereinheitlichen. Ein Mensch aus der Verwaltung schreibt schließlich anders als ein Mensch aus der Wirtschaft, der Justiz oder dem Militär. Und die echte Herausforderung war, daraus ein konsistentes Papier zu machen, was uns aber ganz gut gelungen ist.
Mit diesem Papier sind wir im Dezember letzten Jahres zu den Herausgeberinnen und Herausgebern in den Deutschen Bundestag gegangen. Das Grünbuch wurde von fünf Bundestagsabgeordneten aus unterschiedlichen Parteien herausgegeben. Natürlich gab es dabei unterschiedliche Vorstellungen, die zunächst aufeinander abgestimmt werden mussten. Ich bin sehr froh, dass wir am Ende eine gemeinsame Lösung gefunden haben, da das Grünbuch nicht zuletzt davon lebt, dass es parteiübergreifend auf den Markt gekommen ist. Unsere Idee war es außerdem, dieses Werk vor der Bundestagswahl zu veröffentlichen. Mit Blick auf die vorgezogene Wahl mussten wir also einen Zwischensprint einlegen.
VdZ: Wie wurde das im Grünbuch beschriebene Ausgangsszenario entwickelt?
Christian Seel: Das haben wir mit den Kameradinnen und Kameraden der Bundeswehr erarbeitet. Future Planning ist ein Thema, was im Bereich der Stabsarbeit der Bundeswehr von zentraler Bedeutung ist. Es geht darum, zu überlegen, wie Dinge sich entwickeln können und auf dieser Grundlage den Einsatz der Streitkräfte zu planen. Mit der Bundeswehr gemeinsam haben wir auf der Grundlage der derzeitigen Situation in der Ukraine auf der einen Seite, aber auch immer mit einem prognostischen Element auf der anderen Seite überlegt, wie eine solche tatsächliche Entwicklung eintreten kann.
Wie in meinen Eingangsworten bereits erwähnt: Wir mussten bei diesem Thema links und rechts eine Grenze ziehen. Das geht nur, wenn man mit einem Szenario arbeitet. Auf der Grundlage eines solchen Szenarios kann man Dinge durchdenken und da haben wir bestimmte Bereiche, wie klinische Folgeversorgung, kritische Infrastrukturen etc., herausgegriffen und szenariobasiert abgearbeitet.
Es war nicht die Idee, mit diesem Szenario Angst und Schrecken zu verbreiten. Es ist aber auch ein Szenario, was aus meiner Sicht faktenbasiert deutlich macht, wie eine Entwicklung in Europa stattfinden kann – damit wir wissen, worauf wir uns einstellen müssen.
VdZ: In welchem Bereich übernimmt die Bundeswehr derzeit ZMZ-Aufgaben?
Christian Seel: Die Zivil-Militärische Zusammenarbeit ist schon seit Jahrzehnten ein sehr wichtiges Thema. Man muss hier zwei Seiten einer Medaille betrachten. Das eine sind die klassischen Verfahren nach Artikel 35 GG, also Verfahren der Amtshilfe, kurz die Hilfe der Bundeswehr für die zivile Gesellschaft. Wir denken an die berühmten Fluthelfer. Die Bundeswehr hat ebenso bei der Bewältigung der Flüchtlingslage und während Corona mit der Einrichtung von Impfstellen sowie mit den Kontrollen in Altenheimen unterstützt. Wenn man es verfassungsrechtlich formulieren würde, wird hier die Bundeswehr für die Zivilgesellschaft tätig. Das ist eine Seite der Medaille.
Die andere Seite der Medaille wird gerade bedeutsamer im Sinne von Landesverteidigung und Bündnisverteidigung (LV/BV). Hier geht es darum, dass die Bundeswehr Unterstützung von den Kommunen, den Ländern und anderen Bundeseinrichtungen erhält. Es ist sozusagen der Transmissionsriemen der Bundeswehr in das föderale System der 16 Länder.
Ich nutze hier gerne das Bild von zwei Seiten der gleichen Medaille, und die Medaille heißt Sicherheit in Deutschland. Ganz plastisch dargestellt: Die Bundeswehr hilft zivilen Organisationen bei Waldbränden und Co., aber wird auf der anderen Seite im Kontext des Operationsplan Deutschlands (OPLAN DEU) auf die Unterstützung der zivilen Kräfte angewiesen sein. Deshalb muss man das gemeinsam denken, wenn wir das Problem Stärkung der Resilienz Deutschlands gemeinsam lösen wollen.
Der OPLAN DEU ist ein geheimes, hoch adaptives Dokument, das stetig weiterentwickelt wird. Es umfasst den Einsatz der Bundeswehr in Deutschland in Frieden, Krise und Krieg und damit die Bandbreite von Heimatschutz bis zur Nationalen Territorialen Verteidigung.
VdZ: Würden Sie sagen, dass die zwei Seiten der Medaille gleich groß sind?
Christian Seel: Es gibt Szenarien, in denen das Thema der Amtshilfe signifikant dominiert. Ich würde sogar sagen, dass die Vergangenheit von dieser Situation geprägt war und es gerade ein bisschen umschlägt. Vielleicht hilft das Grünbuch auch, sich darüber im Klaren zu werden, dass in einem LV/BV-Szenario diese andere Seite, nämlich die Unterstützung der Streitkräfte durch die zivilen Organisationen signifikant größer wird. Das Wichtigste ist meiner Meinung nach, den Verantwortungsträgern deutlich zu machen, dass das eine nicht ohne das andere geht. Wenn ich eine große Seite im Bereich von Artikel 35 will, muss ich mich auch im Bereich der Landesverteidigungs- und Bündnisverteidigungssegmenten engagieren. Für die Zivilgesellschaft auf den Punkt gebracht: Du kannst nicht erwarten, dass die Bundeswehr deinen Keller auspumpt, wenn du im Gegenzug nicht in Kauf nehmen möchtest, dass über die Straße vor deinem Haus mal ein Schwertransport fährt.
VdZ: Im Grünbuch wird Deutschlands Lage als Drehscheibe für NATO und EU-Truppenbewegungen beschrieben. Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für Deutschland?
Christian Seel: Anders als im Kalten Krieg-Szenario bis 1990, wo Deutschland unmittelbar an den Eisernen Vorhang gegrenzt hat und damit in diesem Szenario Ort der Kämpfe gewesen wäre, was uns zum Glück erspart geblieben ist, ist die derzeitige Situation eine andere. In den Überlegungen muss man davon ausgehen, dass Deutschland – sollte es zu einem militärischen Konflikt kommen – ein Gebiet ist, durch das Transporte stattfinden, in dem am Ende die Soldatinnen und Soldaten logistisch durchgeleitet werden.
Darum ist es sehr wichtig, dass man Zivil-Militärische Zusammenarbeit auch infrastrukturell denkt. Wir werden uns überlegen müssen, sind denn die Straßen, die wir benutzen müssen in einem solchen Szenario tragfähig? Sind die Brücken noch tragfähig? Wie sieht es mit der erforderlichen Versorgung, wie Kraftstoff, Wasser, medizinische Versorgung, Ersatzteilversorgung, aus? Ich glaube, es ist sinnvoll, gut und richtig, sich frühzeitig Gedanken darüber zu machen, wie diese Drehscheibenorganisation funktionieren kann.
Ein wichtiger Teil in diesem Grünbuch ist auch etwas, was mir sehr am Herzen liegt, nämlich müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass wir in unseren Überlegungen auch die klinische Folgeversorgung von Verwundeten organisieren müssen. Ich glaube, das gehört zur Wahrheit dazu und steht deshalb auch als eigener Punkt im Grünbuch. Dazu müssen wir uns Gespräche mit Klinikträgern vornehmen, dazu müssen wir überlegen, wie die Soldatinnen und Soldaten, die verwundet nach Deutschland kommen, hier versorgt werden können. Und das ist auch ein Thema, was aus meiner Sicht unbedingt in diese Überlegungen der Drehscheibe hineingehört.
VdZ: Kritische Infrastrukturen spielen demnach eine wesentliche Rolle für ZMZ?
Christian Seel: Genau, was wir auch im Grünbuch aufgenommen haben, sind die kritischen Infrastrukturen, die wir bewachen müssen. Wir müssen zunächst schauen: Was ist eine kritische Infrastruktur? Die gibt es im industriellen Bereich, die gibt es im verkehrspolitischen Bereich, möglicherweise sind aber auch militärische Aspekte im Rahmen einer kritischen Infrastruktur zu betrachten. Wir wollten im Grünbuch eine Art Anleitung oder "Kochbuch" geben, in dem man sich ansehen kann, wie man mit dem Thema KRITIS umgeht, wenn man sich als Landrat, Landrätin oder in einer Ministerialverwaltung mit diesem Thema befassen muss. Dabei haben wir auch, was ich gut finde, das Thema Sicherheit behandelt und dabei ganz bewusst auf zivile Anbieter gesetzt.
Sicherheit ist irgendwo auch ein handelbares Gut, das man einkaufen kann – genauso wie Kraftstoff oder medizinische Leistungen. Gerade was den Schutz kritischer Infrastrukturen angeht, ist der Einkauf von Sicherheitsleistungen ein Aspekt, über den man nachdenken sollte.
VdZ: Was sind abschließend aus Ihrer Sicht die wichtigsten oder drängendsten Handlungsempfehlungen für Politik und Wirtschaft, um die Zivil-Militärische Zusammenarbeit in Deutschland zu verbessern oder mehr ins Bewusstsein zu rücken?
Christian Seel: Erstmal bin ich sehr froh, dass man sich überhaupt mit diesem Thema befasst. Ich glaube, es ist gut und richtig, auf allen Ebenen staatlicher Organisationen eine Koordinierungsstelle einzurichten, die dieses Thema in den Fokus nimmt – das ist auch die wesentliche Handlungsempfehlung des Grünbuch-Teams. ZMZ ist ein Thema, das viele Ressorts berührt, wodurch sich auch Schwierigkeiten ergeben. Auf der einen Seite stehen die Ebenen Kommune, Länder und Bund. Auf der anderen Seite sind die Länder und der Bund in verschiedene Ministerien und Fachbereiche unterteilt. Diese schachbrettartige Aufgliederung führt dazu, dass niemand wirklich den Gesamtüberblick hat.
Zweitens: Die Optimierung von Resilienz gibt es nicht umsonst. Wir werden dafür finanzielle Aufwendungen tätigen müssen. Ohne diese werden wir das Thema nicht zufriedenstellend lösen können. Und dabei ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass es nicht nur eine Angelegenheit des Verteidigungsministeriums ist, sondern Resilienzstärkung auch im Bereich der Verkehrsinfrastruktur, der Gesundheitsinfrastruktur etc. nötig ist.
Neben den Handlungsempfehlungen, die auf den letzten Seiten des Grünbuchs zu finden sind, würde ich abschließend sagen: Das Allerwichtigste ist, ein Bewusstsein in der Gesellschaft dafür zu schaffen, dass wir das Thema der Resilienzstärkung, also ZMZ in beiden Bereichen – Artikel 35 GG und LV/BV – nur erfolgreich bewältigen werden, wenn wir alle mitarbeiten.
Ich glaube, das sind die drei wesentlichen Erkenntnisse: Bewusstseinssteigerung, finanzielle Mittel und ein paar Menschen, die das bereichsübergreifend betrachten. Dann blicke ich der Zukunft nicht allzu pessimistisch entgegen. Der Weg dorthin ist aber lang.
📅 Christian Seel auf dem 7. Berliner Kongress Wehrhafte Demokratie
16. Juni 2025, 17:00 - 18:00 Uhr: Moderation
Sicherheit durch Kooperation I (strategisch): Neue Impulse in der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit und beim Schutz kritischer Infrastruktur
17. Juni 2025, 09:30 - 10:30 Uhr: Moderation
Sicherheit durch Kooperation II (operativ): Neue Impulse in der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit und beim Schutz kritischer Infrastruktur
7. Berliner Kongress Wehrhafte Demokratie
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16. - 17. Juni 2025
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Kongresscenter im Hotel de Rome
Der Berliner Kongress Wehrhafte Demokratie unter der Kongresspräsidentschaft von Wolfgang Bosbach versammelt einmal jährlich die führenden Köpfe aus Politik, Sicherheitsbehörden, Bundeswehr, Zivilgesellschaft, Verwaltung, Justiz, Wissenschaft, Medien und Wirtschaft rund um das Themenfeld der Sicherheit. Was 2018 mit dem Schwerpunkt Innere Sicherheit begann, hat sich über die Jahre angesichts der neuen Bedrohungs- und Gefährdungslagen von außen und innen zu einem Dialog für Innere Sicherheit, Verteidigungsfähigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt entwickelt.
Der 7. Berliner Kongress Wehrhafte Demokratie - Gesellschaftlicher Dialog für Innere Sicherheit, Verteidigungsfähigkeit und Zusammenhalt findet vom 16. bis 17. Juni 2025 im Hotel de Rome in Berlin statt.