Die objektive Unmöglichkeit von Cloud, OZG, KI und Co.
Oder die Geschichte der einzigartigen Abwehrkräfte von Papierfischchen
Die Tagesschau berichtete im Dezember 2022 von „Digitalisierung mit fatalen Folgen“ zum Thema BAföG-Anträge. Die Anträge waren ab sofort nur noch auf digitalem Wege zu stellen, was ein guter Schritt in die richtige Richtung war. Leider arbeiteten ausnahmslos alle BAföG-Ämter noch mit Papierakten. Alle online eingegangenen Anträge wurden ausgedruckt und veraktet, das geschah auch mit extra neu eingestelltem Personal. Die Bearbeitungszeit wurde dadurch nicht verkürzt, sondern verlängert.
Wie digital waren die öffentlichen Dienste im gleichen Jahr in Deutschland? Sie waren im europäischen Vergleich (Europäische Kommission, DESI) führend. Dies aber leider nur im letzten Drittel: Deutschland belegte Platz 18 von 27. Oft hört man in diesem Zusammenhang: „Ja, die nordischen Staaten …“. Ja, diese Staaten belegen bekanntlich die ersten Plätze. Aber von 2021 bis 2022 sind auch Ungarn und die Tschechische Republik an Deutschland vorbeigezogen. Diese beiden Länder verortet man wohl nicht im Norden Europas.
Papierakte vs. E-Akte
Eine innerdeutsche Betrachtung brachte im gleichen Jahr die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement KGSt im Bericht 06/2022 ("Verwaltungsdigitalisierung organisieren und messen") auf den Markt. Quer durch Deutschland wurde gefragt, wie hoch der Anteil der Mitarbeitenden eingeschätzt wird, die Zugang zu elektronischen Akten haben. Knapp 10 % hatten danach überhaupt keinen Zugang. Nur gut 5 % konnten die Akten zu mehr als zwei Drittel elektronisch führen. Die anderen ca. 85 % waren eher am unteren Ende angesiedelt.
Laut einer Befragung der KGSt im Jahr 2022 zum geschätzten Anteil der Mitarbeitenden mit Zugang zu elektronischen Akten konnten nur 5 % der Befragten Akten zu mehr als zwei Dritteln elektronisch führen.
Entgegenkommend dabei war die Formulierung, wer Zugang zu elektronischen Akten hat. Gefragt wurde nicht, wer tatsächlich damit arbeitet. Sie meinen, das wäre Wortklauberei? Leider nicht. Die Behörden in NRW sind beispielsweise zwar mit E-Akten versorgt, müssen parallel aber Papierakten führen. Und das obwohl die Rechnungshöfe des Bundes und der Länder schon 2015 unmissverständlich formuliert haben, dass das Nebeneinander von elektronischen Akten und Papierakten zu vermeiden ist. Zum gleichen Ergebnis kommt auch unweigerlich, wer sich das einmal praktisch vorstellt.
Beispiele dieser Art spiegeln einen sehr großen Teil der behördlichen Realität wider. Da in Deutschland vieles untersucht wird, können wir auf eine große Menge von Daten blicken. Wenn Papierakten zur täglichen Realität gehören, hat das auch einen ökologischen Aspekt. Deutsche Bürobeschäftigte (also nicht nur der öffentliche Dienst) drucken statistisch pro Tag mindestens 15 Seiten aus. Bei 10 Millionen Beschäftigten macht das 150 Millionen Blatt Papier, was wiederum 750 Tonnen Papier entspricht, wohlgemerkt pro Tag! Das entspricht jährlich 245.000 Bäumen oder einer Waldfläche von 1,6 qkm.
Neben dem ökologischen Aspekt bedeutet das Lagern von Papier in den Behörden auch bares Geld. Wertvolle und in aller Regel teure Bürofläche wird als Papierlager verschwendet. Eine mittlere Stadt im Ruhrgebiet hat beispielsweise das Rathaus saniert – und vorher flächendeckend auf die E-Akte umgestellt. Vor der Sanierung waren 350 Mitarbeitende im Rathaus, jetzt 500. Wie viele qm werden heute dort für Papierakten benötigt? Null! Es geht also auch anders, wie solche Beispiele zeigen.
Die Untersuchungen, wie viel Zeit täglich mit dem Bearbeiten von Papierdokumenten verbracht wird, gehen bis zu 35 %. Das heißt, bei 1.000 Mitarbeitenden arbeiten täglich 350 nur dafür, mit Papier umzugehen. Lediglich 650 arbeiten „produktiv“. Wenn das kein weiterer Kostenfaktor gerade in Zeiten des Arbeitskräftemangels ist.
Die vermeintliche Einzigartigkeit der Behörden
Wieso ist es jedoch häufig zeitaufwendig und auch teurer, die Papierakten in den wohlverdienten Ruhestand zu schicken und an ihrer Stelle elektronische Akten einzusetzen?
Weil jede Behörde anders, einzigartig und auf eine mystische Art auch besonders ist.
Man kann aber auch ganz andere Wege beschreiten, um ans Ziel zu gelangen. Sind die Behörden wirklich so verschieden? Bei genauerer Betrachtung ist das nicht der Fall. Alle Städte und Kreise haben in Deutschland beispielsweise grundsätzlich die gleichen Aufgaben, unabhängig von ihrer Größe und in welchem Bundesland sie liegen. Es ist ja nicht so, dass in Stadt A im Süden Sozialhilfe gewährt wird und diese Aufgabe in Stadt B im Norden völlig unbekannt ist. Wenn die Aufgaben gleich sind, dann ist es nicht verständlich, wenn die Mittel und Wege der Erledigung anders aussehen.
Leider gehört auch zur Realität, dass die Personalakten bei 20 Behörden 25-mal unterschiedlich aussehen. Bis ein Haus mit 1.800 Mitarbeitenden vollständig umgestellt ist, werden Generationen vergehen – es sei denn, man setzt auf Standards. Zwei entsprechend große Behörden im Landkreis Diepholz und in der Stadt Flensburg im Norden Deutschlands zeigen, dass eine Umstellung auch in nur sechs Jahren möglich ist.
Werden Akten in der Papierwelt mit völlig identischem Aufbau in der Personalverwaltung genauso wie im Sozialamt oder im Jugendamt (Aktenschrank – Akte – möglicherweise unterteilt in Register oder Vorgänge – Belege) genutzt, spricht erst einmal nichts dagegen, dass sie auch in elektronischer Form überall gleich eingesetzt werden können. Sollte eine Behörde wirklich so isoliert arbeiten, dass die Gesetze des Marktes für sie nicht gelten? Das ist nicht begründbar.
Wenn etwas kostengünstig und schnell produziert und ausgerollt werden soll, wird dann die Individualität ausgelebt, oder gelten hier Standards und Normierungen? Es ist gemeinhin bekannt, dass Gleichartigkeit in der Produktion hilft. Dasselbe gilt für die Papierakte: in allen Bereichen gleichsam einsatzfähig, allen Behörden und Personen in der Wirtschaft in allen Ländern bekannt. Muss man das ändern, nur weil das Medium gewechselt wird? Nein.
Hier kommt die standardisierte E-Akte ins Spiel. Sie ist der Papierwelt nachempfunden, das heißt: Akte – (wenn gewünscht) Register – dazugehörige Dokumente. Im Gegensatz dazu stehen individuelle E-Akten, in denen Register in Register in Register, wie bei einem Explorer, zu finden sind. Durch diese zahlreichen Verschachtelungen und Typisierungen, in denen man leicht den Überblick verlieren kann, wird das Ziel der Vereinfachung schnell verfehlt. Den Weg zu einheitlichen E-Akten erfolgreich zu beschreiten, ist nicht abhängig vom Bundesland oder der Größe der Behörden, es geht um Standard statt Individualität. Keine Behörde schafft es ohne Standards.
Sollte eine Behörde wirklich so isoliert arbeiten, dass die Gesetze des Marktes für sie nicht gelten? Das ist nicht begründbar.
Eine Frage des Standards
Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, den Blick auf sicher nicht alle, aber einige Dienstleister zu richten. Wenn eine Behörde, die sich der Unterstützung eines Dienstleisters bedient, eine elektronische Akte im Personalbereich eingeführt hat, nun auch im Ordnungsbereich den Tausch vollziehen möchte, dann ist die Erwartungshaltung klar. Das muss schnell gehen, damit man im Hause weiterkommt. Da aber eine Vielzahl der Dienstleister stets neue Akten aufruft – Akten mit anderen Feldern, anderen Registertiefen, anderen Aufbauten, etc. – dauert es schon mal Monate, bis es weitergeht. Dieser Trend wird von vielen, die im Bereich der E-Akte-Lösungen tätig sind, unterstützt – vielleicht, weil durch das konsequente Umsetzen solcher Modelle viel Geld generiert werden kann.
Durch Standards (in Form von Projektarbeit, einheitlichen Akten, Schulungen, Leistungsverzeichnis für Scandienstleister) kann eine Behörde schnell und kostengünstig flächendeckend die E-Akte ausrollen und dabei sicher sein, dass sie von den Mitarbeitenden auch genutzt wird. Ob diese Standardisierung nun in kleineren oder größeren Behörden umgesetzt wird, spielt dabei keine Rolle.
Und vielleicht ist mit einem Standard auch endlich ein erfolgreiches Medikament gegen Papierfischchen in Behörden auf dem Markt.