BITV WCAG

„Barrierefreiheit bedeutet mehr als Konformität gemäß den Richtlinien“*

Eine nähere Betrachtung der EU-Richtlinie barrierefreies Design von Seiten und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen

Mit der Richtlinie 2102 sollen die Anforderungen der Barrierefreiheit auf Webseiten und mobilen Apps europaweit vereinheitlicht werden. Binnen 21 Monaten nach Inkrafttreten, sprich zum 23. September 2018, sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, entsprechende harmonisierte Standards in nationales Recht umzusetzen. VdZ hat genauer hingesehen, sich mit Experten ausgetauscht und ist der Frage nachgegangen, warum in Sachen Barrierefreiheit noch viel Luft nach oben ist.

Zum barrierefreien Webdesign gibt es bereits Regelwerke, doch sind diese nicht einheitlich umgesetzt. Insbesondere Deutschland und deren öffentliche Stellen auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene haben die Umsetzung der digitalen Barrierefreiheit gesetzlich unterschiedlich geregelt. „Manche Länder beziehen sich auf die BITV 2.0 des Bundes, andere wiederum nicht. Wenn man es einmal runterdekliniert – Bund, Land, Kommune – herrscht bisher ein großes Gefälle hinsichtlich der Umsetzung“, fasst Simone Miesner, Fachbereichsleiterin Information und Kommunikation von der Bundesfachstelle Barrierefreiheit, die momentane Situation in Deutschland zusammen.

Die Richtlinie 2102 sieht nun vor, die in Deutschland geltende Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0 ) an die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG 2.0) bis September 2018 anzugleichen (als Standard wird die Norm EN 301 549 genannt) und setzt im Zuge dessen Mindestanforderungen an Technik, Monitoring und Gestaltungsbereich öffentlicher Internetseiten und mobiler Anwendungen voraus.

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Unter dem Titel RICHTLINIE (EU) 2016/2102 DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 26. Oktober 2016 über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen ist die Rechtsetzung am 02. Dezember 2016 im Amtsblatt der Eurpäischen Union veröffentlicht worden.

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BITV 2.0 vs. WCAG 2.0 – was ändert sich konkret?

„Es handelt sich quasi um eine Aufforderung, die bestehenden Verordnungen an die WCAG 2.0 anzupassen. Von daher wird in dieser Hinsicht auf der Bundesebene  nicht ganz so viel passieren, weil die BITV 2.0 wie die WCAG 2.0 gelesen werden kann, auch wenn es Abweichungen gibt“, konstatiert Jan Hellbusch, der sich seit 2001 intensiv mit dem Thema Barrierefreiheit beschäftigt. Er berät Organisationen, wie sie Barrierefreiheit am besten erreichen können und schreibt Gutachten über die tatsächliche Barrierefreiheit von digitalen Inhalten. Jan Hellbusch ist selbst seit über 30 Jahren von einer Sehbehinderung betroffen und inzwischen erblindet.

Abweichungen äußern sich neben der flächendeckend verpflichtenden Vorgabe der Konformitätsstufe AA für Websites, mobile Apps, Intranets und Dokumente in einer „detaillierten, umfassenden und klaren Erklärung zur Barrierefreiheit über die Vereinbarkeit ihrer Websites und mobilen Anwendungen“ (Artikel 7) und deren Bereitstellung und regelmäßige Aktualisierung. Diese muss in Form eines „zugänglichen Formats“ auf den entsprechenden Websites veröffentlicht werden. Im Zuge dessen erlässt die Kommission eine Durchführungsrechtakte zur Feststellung einer „Mustererklärung zur Barrierefreiheit (…) spätestens bis zum 23. Dezember 2018 (Artikel 7)“.

Zudem ist eine Überprüfung und Berichterstattung der Mitgliedstaaten über die Einhaltung der Anforderungen vorgesehen. Das heißt, die Bundesregierung wurde dazu verpflichtet, die Barrierefreiheit im öffentlichen Sektor zu überwachen. Dafür muss jeder Mitgliedstaat eine nationale Stelle benennen, die für die Überwachung verantwortlich ist. Vor diesem Hintergrund erlässt die Kommission eine Methode für die Überwachung, die „transparent, übertragbar, vergleichbar, reproduzierbar und leicht zu handhaben (Artikel 8)“ sein muss. Spätestens ab dem 23. Dezember 2021 sollen die Mitgliedstaaten über die Ergebnisse der Überwachung einschließlich der Messdaten und danach im Rhythmus von drei Jahren berichten. „Die Monitoring-Stelle sehe ich als eine der wichtigen Änderung an: Zum einen bietet sie die Möglichkeit, die Barrierefreiheit auf den Webseiten der öffentlichen Stellen und ihre Entwicklung zu dokumentieren, und zum anderen ist sie Rechenschaft gegenüber der Europäischen Kommission schuldig. Langfristig kann dadurch eine unabhängige und weniger von wirtschaftlichen Interessen geleitete Überprüfung der Barrierefreiheit in digitalen Produkten angestrebt werden“, erhofft sich Hellbusch.

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Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass öffentliche Stellen die erforderlichen Maßnahmen treffen, um ihre Websites und mobilen Anwendungen  besser zugänglich zu machen, indem sie sie wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust gestalten (Artikel 4 Anforderungen an den barrierefreien Zugang von Websites und mobilen Anwendungen).

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Neben Konformität und Monitoring sieht die Richtlinie vor, dass ein gut sichtbarer Feedbackmechanismus auf jeder Website eingebunden soll: Über den Feedbackmechanismus soll konkret Rückmeldung an die Webseitenbetreiber abgegeben werden können. Dieses Feedback muss dann innerhalb einer entsprechenden Frist von den Webseitenbetreibern beantwortet werden. Das heißt, die Redaktionen müssen sich stärker mit den Themen der Barrierefreiheit auseinandersetzen, um die Fragen beantworten zu können“, so Simone Miesner. Derzeit liegen noch keine Informationen darüber vor, wie jene Vorgaben in Deutschland konkrete Umsetzung finden.

Galt die BITV 2.0 bisher nur für den Bund, ist die europäische Richtlinie nun auch für Länder, die bis dato sehr heterogene Regelung erlassen haben, sowie Kommunen bindend. Dem gerecht zu werden, stellt eine große aber zwingend notwendige Herausforderung dar, die sich aber weiterhin nur auf den öffentlichen Sektor bezieht.

Hellbusch: Meine persönliche Meinung? Wir brauchen langfristig ein Amt für Barrierefreiheit in der Informationstechnik. Barrierefreiheit verändert sich im Zuge neuer Technologien regelmäßig und es ist bei allen digitalen Inhalten anwendbar. Es betrifft nicht nur Websites, Software und Apps, auch alles was um Smart Home angesiedelt ist, Navigationssysteme, Zahlensysteme etc. Diese ganzen digitalen Inhalte und Interaktionen müssen letzten Endes in einer inklusiven Welt auch alle barrierefrei sein. Barrierefreiheit betrifft nicht nur die öffentliche Verwaltung, sondern viele weitere Bereiche des Lebens. Dafür fehlt es derzeit an verbindlichen Vorgaben und Kontrollmechanismen.“

Prüfverfahren und die Definition von Konformität  

Bisher und unter den Vorgaben der BITV 2.0 existiert ein unverbindliches Prüfverfahren, erstellt von einem privaten Anbieter. Dort sind Webangebote aufgeführt, die in einem BITV Test 90 oder mehr Punkte (von maximal 100 Punkten) erreichen und somit als gut oder sehr gut zugänglich bewertet werden. „Bisher ist es durchaus möglich, eine gute oder sehr gute Punktzahl zu erzielen und gleichzeitig, wenn man die internationalen Richtlinien heranzieht, keine Konformität zu erreichen, also nicht einmal auf die geringste Stufe. Das heißt, mit 95+ Punkten kann man sich nach diesem Test als sehr zugänglich ausweisen, aber nach WCAG würde man nicht einmal Konformitätsstufe A erhalten, weil bestimmte Kriterien auf dieser Stufe nicht erfüllt sind. Ich mache es an einem Beispiel deutlich: Betrachtet man das erste Kriterium Textalternativen für nicht Textelemente wie Grafiken, kann es sein, dass für eine entsprechende Grafik keine Textalternative vorhanden ist. Und wenn es diese nicht gibt, könnte im BITV-Test ein halber Punkt abgezogen werden. Nach WCAG heißt es aber, alle Nicht-Text-Elemente brauchen eine Textalternative. Konformität, die nur für ganze Seiten festgestellt werden kann, ist nach WCAG nicht gegeben“, bemerkt Hellbusch kritisch.

Gleichzeitig geht es aber auch die Dauer und Pflege der Website hinsichtlich Barrierefreier Kriterien, die – eigentlich – nicht außer Acht gelassen werden dürfen und Miesner fügt hinzu: „Barrierefreiheit ist ein Prozess. Ich kann eine barrierefreie Website aufsetzen und auch einen Test sehr gut durchlaufen. Arbeite ich aber vier Jahre damit und mache keinen Test mehr, ist natürlich die Gefahr groß, dass diese Website mitnichten mehr barrierefrei ist. Stand jetzt ist, dass es keine Verpflichtung zu regelmäßigen Tests gibt oder der Anordnung, regelmäßig Schulungen zu durchlaufen. Mit den Testverfahren der Überwachungsstelle im Takt von drei Jahren und den Bericht an die EU-Kommission gibt es dann einen Hebel, der Defizite oder aber auch gute Umsetzungen aufzeigen kann. Insgesamt wird digitale Barrierefreiheit dadurch viel stärker in den Fokus gerückt“.

„Da ist noch Luft nach oben“*

Dass neben Testverfahren und Konformität noch mehr zum Thema Barrierefreiheit gehört, wird einem schnell klar, wenn man bedenkt, wie das Thema Verständlichkeit in den Richtlinien verortet ist. Dazu Hellbusch: „Das Thema Verständlichkeit taucht in beiden Richtlinien auf, sowohl in der WCAG 2.0 als auch der BITV 2.0, aber erst auf Konformitätsstufe AAA. Das bedeutet, es ist eher optional und trotzdem gibt es Menschen, die auf Verständlichkeit angewiesen sind. Zudem gibt es Themen, die gar nicht in den Richtlinien auftauchen. Aber es fehlt das technische Fundament. Für viele Anwendungen ist auf der einen Seite kein technisches Regelwerk vorgesehen und auf der anderen gibt es viele weiche Kriterien, die durchaus mehr Berücksichtigung finden könnten. Aus meiner Sicht ist Konformität eine Minimalanforderung und nur der erste Schritt zu einer besseren Nutzbarkeit für Menschen mit Behinderung.“

Trotz einiger Kritik und viel Hoffnung an kommende Entwicklungen, können bereits jetzt Best Practices in Sachen barrierefreier Websiten ausgemacht werden. So sei, laut Hellbusch, die Website der Arbeitsagentur, die offensichtlich mit Screenreadern ausführlich getestet wurde, schon sehr gut zugänglich. Auch bei der Fernuniversität Hagen und dem jüdischen Museum in Berlin, für das Hellbusch beratend zur Seite steht, merke man, dass das Thema Barrierefreiheit sehr ernst genommen wird.

 

 

*Zitatgeber: Jan Hellbusch