Zuerst analysieren, dann digital optimieren
Die Bürger-Brille noch stärker aufsetzen: Rhein-Kreis Neuss entwickelt bereits fünfte App selbst
Vieten war als Leitender Verwaltungsdirektor und Amtsleiter bereits seit vielen Jahren für die Bereiche Presse, E-Government und Bürgerservice zuständig. Sein Dezernat umfasst neben dem Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie nun auch das Kataster- und Vermessungswesen, Controlling und Gebäudewirtschaft. Auch die Digitalisierungsstrategie, die Vieten 2016 gemeinsam mit seinem Vorgänger Bijan-Djir Sarai (heute Bundestagsabgeordneter) angestoßen hatte, wird künftig zentral aus seinem Dezernat koordiniert. Eine breite Aufgabenfülle.
Digitalisierung mit CIO, CDO und IT-Dezernenten
Landrat Hans-Jürgen Petrauschke hat Digitalisierung und E-Government zur Chefsache erklärt und verschiedene Maßnahmen eingeleitet, um die Themen in der Kreisverwaltung voranzubringen. Neben der Stelle eines Chief Information Officer (CIO) wurde im April die Stelle eines Chief Digital Officer (CDO) neu geschaffen. Im Rahmen seiner Stabsstelle am IT-Dezernat geht der CDO auf die Ämter zu, um Prozesse zu analysieren und gemeinsam mit den Fachämtern zu optimieren. Eine außerordentlich wichtige Funktion, um einen Perspektivwechsel einzuleiten, unterstreicht Vieten.
Die Digitalisierung muss zur Norm werden. Das bedeutet für uns, dass jeder – vom Sachbearbeiter bis zur Amtsleitung – noch mehr gefordert ist, sich Gedanken darüber zu machen, wie Prozesse vereinfacht und digital umgesetzt werden können.
Gesucht: Kommunikationsstarke Personen
„Digitalisierung ist nicht in erster Linie eine Frage der Technik, sondern steht für eine weitreichende Modernisierung der öffentlichen Verwaltung, die durch Technik ermöglicht wird. Hier gilt es, auch neue Wege zu beschreiten. Dafür sei nicht in erster Linie ein Informatiker notwendig. Es brauche vor allem eine kommunikationsstarke Person, die die Verwaltung kennt und mit den Fachämtern reden kann.“ Was beim Bürger gilt, stimmt auch für die Verwaltung selbst: Die Leute dort abholen, wo sie sind. Das wird in Zukunft noch wichtiger, wenn es sich um die Fortbildung der Mitarbeiter dreht.
Komplexität erfordert noch bessere Steuerung
100.000 Euro pro Jahr will der Landkreis deshalb zusätzlich im Fortbildungsetat bereitstellen: um die eigenen Mitarbeiter für den digitalen Wandel fit zu machen und Kompetenzen im Prozess-, Projekt- und Informationsmanagement weiter auszubauen. "Die Digitalisierung muss zur Norm werden. Das bedeutet für uns, dass jeder – vom Sachbearbeiter bis zur Amtsleitung – noch mehr gefordert ist, sich Gedanken darüber zu machen, wie Prozesse vereinfacht und digital umgesetzt werden können." Mit steigender Komplexität wächst auch der Anspruch an Steuerung und Koordination. Vieten sieht deshalb in der Personalakquise und -entwicklung eine der größten Herausforderungen für die Verwaltungen.
Werden in Düsseldorf in größerem Stile Stellen ausgeschrieben, merken wir das bei uns sofort.
Viel Konkurrenz: nebenan liegen Köln und Düsseldorf
Schon heute müssten sämtliche Bewerber im verwaltungstechnischen Bereich IT-Kenntnisse mitbringen. Vom Hausmeister über Sachbearbeiter bis zur Servicekraft seien hier alle Berufsgruppen eingeschlossen. „Wir haben zudem viel Konkurrenz drum herum“, weiß Vieten. Der Landkreis grenzt im Osten direkt an die Landeshauptstadt Düsseldorf – hier arbeiten nicht nur über 10.000 Menschen für die Stadt, sondern ebenso Tausende Mitarbeiter in Dutzenden von Landesbehörden. „Werden in Düsseldorf in größerem Stile Stellen ausgeschrieben, merken wir das bei uns sofort.“ Und im Süden grenzt die Millionenstadt Köln direkt an den Landkreis. Man ist mitten drin, statt nur dabei.
Landkreis hat mehr als 20 IT-Mitarbeiter
Aber auch der Rhein-Kreis Neuss ist unter Deutschlands Gebietskörperschaften kein kleines Licht. Mit rund 450.000 Einwohnern rangiert man unter den zehn größten Landkreisen und kann z. B. auf eine eigene IT-Abteilung mit mehr als 20 Mitarbeitern zurückgreifen. „Tendenz steigend“, sagt Diplom-Verwaltungswirt Vieten. Bei steigender Aufgabenfülle im IT-Bereich – bislang etwa 3.000 PCs und 200 Fachverfahren in Verwaltung und Kreisschulen – will der Kreis sein IT-Personal erhöhen und bildet jährlich auch selbst Fachinformatiker aus. Eine begehrte Berufsgruppe. Zudem ist der Rhein-Kreis Neuss Verbandsmitglied im kommunalen Rechenzentrum ITK Rheinland.
Gerade in der Kombination aus demografischen Wandel, Fachkräftemangel und fortschreitender Digitalisierung wird die öffentliche Verwaltung absehbar nicht „sexy“ genug sein.
TVÖD leicht angepasst – das reicht aber nicht
Um die jungen IT-Kräfte künftig besser bei Laune zu halten, wurde der TVÖD hinsichtlich der Eingruppierungsmöglichkeiten bereits „ein bisschen“ angepasst. Eines wird aber schnell klar: Auch wenn ein paar hundert Euro am Monatsende mehr bleiben – reichen wird das kaum, um talentierte Informatiker zu halten. Gerade in der Kombination aus demografischen Wandel, Fachkräftemangel und fortschreitender Digitalisierung wird die öffentliche Verwaltung absehbar nicht „sexy“ genug sein. Dafür müssen weitere Rahmenbedingungen geschaffen werden. Umso wichtiger ist es, die vorhandenen Mitarbeiter zu qualifizieren, sich umzuschauen, mit anderen Akteuren zu kooperieren und es im Zweifel selbst zu versuchen. Die Kreisverwaltung sieht sich hier auf gutem Wege – sie initiiert seit Jahren Modernisierungsprojekte.
Rhein-Kreis Neuss
Der Rhein-Kreis Neuss liegt mit seinen rund 450.000 Einwohnern an zehnter Stelle unter den deutschen Landkreisen. Grob verortet verläuft das Kreisgebiet vom nördlichen Stadtrand Kölns linksrheinisch an Düsseldorf und östlich an Mönchengladbach vorbei und grenzt am nördlichen Ende an die Städte Krefeld und Duisburg. Zum Kreis gehören große Städte wie Neuss (rd. 150.000 Einw.), Dormagen (65.000), Meerbusch (55.000) und Kaarst (45.000). Sitz der Kreisverwaltung ist Grevenbroich (63.000).
Bekannt sind vor allem die Apps des Kreises. Schon seit einer Dekade beschäftigt sich die IT-Abteilung damit, den Bürgern einen möglichst einfachen Zugang zu den Verwaltungsleistungen zu bieten. Die Devise: Ideen aus den eigenen Behörden aufnehmen, Lösungen zentral entwickeln und wiederum über die Ämter ausrollen. Und dabei ebenso die „Bürger-Brille“ aufsetzen. Ein Beispiel ist die bereits 2011 gestartete Straßenverkehrsamt-App.
Die Devise: Ideen aus den eigenen Behörden aufnehmen, Lösungen zentral entwickeln und wiederum über die Ämter ausrollen.
Eigene Straßenverkehrsamt-App
"Mein StVA" bietet einen Online-Unterlagenprüfer (um fehlende Unterlagen zu vermeiden), eine Wartezeitenprognose für alle vier Dienststellen des Straßenverkehrsamtes und eine Wartenummer-Alarmfunktion. Die App adressiert die jährlich rund 160.000 Bürger der Behörde und wurde in diesem Jahr „aufgefrischt“. Bürger erfahren nun die aktuelle Wartezeit an den jeweiligen Standorten als auch die Anzahl der Kunden im Verhältnis zu verfügbaren Mitarbeitern. Darüber hinaus signalisieren Ampelfarben, ob ein Besuch der gewünschten Dienststelle empfohlen wird. Bei langen Wartezeiten erhält der Kunde etwa per Smartphone eine Empfehlung inklusive Wegstreckenzeit, eine andere Dienststelle aufzusuchen oder den Besuch des Straßenverkehrsamtes zu verschieben.
Push-Benachrichtigungen für die Kunden
Mit der „Alarmfunktion“ hat der Kreis einen häufigen Kundenwunsch aufgegriffen. Bei größerem Andrang kann der Wartebereich nun kurzfristig verlassen werden, um Dinge zu erledigen. Eine Push-Funktion informiert den Bürger, wenn seine Wartenummer näher rückt. Diese Neuerungen sind entlastende (Fort-)Schritte, aber längst nicht das Ende aller Vereinfachungen – das zeigt eine weitere Frage, die man sich im Rhein-Kreis Neuss stellt: Wie können amtliche Leistungen möglichst zusammen erledigt werden? Das Ziel: Wege sparen.
KfZ- und Meldewesen – zusammen?!
In den Orten Jüchen (23.000 Einwohner) und Rommerskirchen (13.000) passiert das schon. Das Modellprojekt erlaubt es den Einwohnermeldeämtern, bei Ummeldung des Wohnortes die Adresse der Halter von Kraftfahrzeugen ebenso anzupassen. Das mag auf den ersten Blick nicht bemerkenswert klingen, derartige ebenenübergreifende Kooperationsmodelle sind jedoch noch selten. Denn: Der Bereich Kraftfahrzeuge obliegt eigentlich den Kreisen bzw. kreisfreien Städten. Die Gemeinden sind für das Meldewesen zuständig. Kompetenzen werden in der deutschen Föderalstruktur üblicherweise aufs Äußerste verteidigt.
5 Apps aus dem Rhein-Kreis Neuss
- StVA-App (für das Straßenverkehrsamt)
- Heim-Finder-App (für das Sozialamt)
- MRSApp (für das Gesundheitsamt)
- Rettungsdienst-App (für das Amt für Sicherheit und Ordnung)
- Notfallmedizin-App (für das Amt für Sicherheit und Ordnung)
Kreis und Gemeinden teilen sich Einnahmen
Anders in diesem Fall. Die Mitarbeiter der Gemeindeämter wurden vom Straßenverkehrsamt geschult. Über ein vom Kreis bereitgestelltes elektronisches Verfahren teilen die Gemeindebediensteten die Anschriftenänderung dann dem Straßenverkehrsamt mit. Dort werden die erhobenen Daten dem staatlichen Zentralen Fahrzeugregister mitgeteilt. Die Gebühreneinnahmen teilen sich Kreis und Gemeinden hälftig.
"Wir müssen durch Kooperationen und Verschlanken der Prozesse Verwaltungshandeln noch effizienter und bürgerfreundlicher gestalten“, unterstrich Petrauschke zum Start der Pilotierung Ende 2017. Der Landrat will künftig allen Bürgermeistern im Kreis ähnliche Vereinbarungen anbieten. Aber auch dieser Schritt bedeutet längst nicht das Ende der Fahnenstange. Das wird besonders an der Digitalisierung des Gesundheitszeugnisses deutlich, an der der Landkreis ebenfalls feilt.
Die Gesetzeslage lässt bislang keine Online-Lösung zu.
Hygiene-Belehrung: Weiteres Pilotprojekt geplant
Damit Menschen im Lebensmittelbereich dieses Dokument bekommen, müssen sie an einer „Hygiene-Belehrung“ des Gesundheitsamts teilnehmen. Früher wurden dafür „ganze Busladungen“ von Menschen ins Gesundheitsamt befördert, erinnert sich Vieten. „Die Leute mussten sich unter der Woche dafür freinehmen.“ Inzwischen können Interessenten einen Schulungsraum im kreiseigenen Technologiezentrum aufsuchen und dort werktags von 14 bis 22 Uhr oder samstags einen Lehrfilm anschauen. Anschließend erhalten sie das Zertifikat. Weiterhin muss aber gewährleistet werden, dass sich die Interessenten identifizieren und vor Ort belehren lassen.
Harald Vieten möchte auch das ändern. Ziel ist es, dass die Leute den Lehrfilm von Zuhause aus schauen können. „Die Gesetzeslage lässt jedoch bislang keine Online-Lösung zu“, so der Dezernent. „Wir arbeiten an einem Pilotprojekt.“ Mal schauen, ob der Kreis hier ebenso Gehör findet.
Leuchttürme oft zu schwach
In jedem Fall zeigt es, dass die Dinge in Deutschland oft kompliziert und dadurch kostenintensiv und meist auch langsam vorangehen. Die schiere Zahl an Gebietskörperschaften, an unterschiedlichen Programmen, Projekten und Ansätzen lässt selbst Experten kaum einen Überblick gewinnen. Auch die viel prämierten „Leuchttürme“ vermögen es (noch) nicht dieses Gelände zu überstrahlen. „Ich glaube trotzdem daran, dass wir in Deutschland die Digitalisierung schaffen!", betont Vieten, der in jüngster Zeit mehr „Leadership“ von Bund und Land beim digitalen Wandel spürt.
Die Leute mussten sich früher dafür unter der Woche freinehmen.
Kirchturmdenken hinter sich lassen
Es bleibt aber dabei: Ein langer Atem, eigene Ideen und vor allem auch eine gute Kommunikation nach innen wie außen sind notwendig, um die Verwaltung vor Ort für die Bürger wirklich voranzubringen. Durch ihre langjährige Tätigkeit rundum die Digitalisierung sind Vieten und seine Leute gut vernetzt und tauschen sich aus. „Wir stellen unsere Apps auch allen interessierten Kommunen im Bundesgebiet zur Verfügung.“ Gerade in der Digitalisierung, wo Grenzen ohnehin verschwimmen, geht es darum, tradierte Hoheitsansprüche und Kirchturmdenken zu überkommen. Das kann manchmal auch andersherum laufen.
Wir stellen unsere Apps auch allen interessierten Kommunen im Bundesgebiet zur Verfügung.
Keine Hektik, auch mal „strategisch warten“ könnnen
So hat der Landkreis die eigenen Ambitionen, alle Verwaltungsleistungen rundum die Geburt von Kindern zusammenzubringen (Stichwort: once only) erst einmal auf Eis gelegt, nachdem bekannt wurde, dass Bremen hierbei schon recht weit ist. Was früher unter „E-Geburt“ firmierte und heute „Einfach Leistungen für Eltern“ (ELFE) heißt, ist Gegenstand des Digitalisierungsprogrammes des IT-Planungsrates und wird in der Freien und Hansestadt vom Dienstleister Dataport umgesetzt. Die Gegebenheiten im Stadtstaat mögen anders und Adaptionen später notwendig sein. Allein die Kenntnis, dass andere an gleichen Lösungen arbeiten, birgt die Chance, Ressourcen und Steuergeld zu sparen. „Bei aller gebotenen Eile, dürfen wir deshalb nicht in Hektik verfallen, sondern müssen über den Tellerrand schauen, um zu sehen, was die anderen machen“, so Vieten.