Theurer
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Interview mit Anja Theurer: Innovation und Beschaffung

Verantwortung der Leitungsebene von Behörden

Die Mitbegründerin und Geschäftsführerin von innovation at scale, Anja Theurer, beschreibt in diesem Interview innovative Beschaffung als zentrale Führungsaufgabe in der Verwaltung. Der Fokus liegt auf einer engeren Verzahnung zwischen Start-Ups und öffentlichem Auftraggeber.

Verwaltung der Zukunft: Guten Tag Frau Theurer, nach dem Ergebnis einer EU-Studie liegt Deutschland bei der innovativen Beschaffung nur auf Platz 11 von 30 untersuchten europäischen Ländern. Somit noch hinter Spanien und dem Vereinigten Königreich. Können Sie sich mögliche Faktoren vorstellen, die dafür verantwortlich sind?

Theurer: In Deutschland wird die innovative Beschaffung nicht strategisch genug angegangen. Ihre Einführung oder Umsetzung wird nicht als Führungs- oder Transformationsaufgabe wahrgenommen. Vielmehr werden die Beschafferinnen und Beschaffer auf Arbeitsebene mit der Aufgabe regelmäßig alleine gelassen. Zwar wurden für diese Zielgruppe in den letzten Jahren zahlreiche fachliche Unterstützungsangebote zur Verfügung gestellt. Ganz offensichtlich hat das die innovative Beschaffung in Deutschland aber noch nicht in hinreichendem Maße weitergebracht. Eine große Rolle spielt hierbei der Risikoaspekt: aus Sicht der Beschaffung ist es immer weniger risikoreich, Vergaben so zu gestalten, dass größere, etabliertere Marktteilnehmer mit eingeführten, erprobten Technologien den Auftrag gewinnen. Die Beauftragung jüngerer Marktteilnehmer mit neuen Technologien hingegen wird als risikoreich wahrgenommen: Geht etwas schief, ist man als Beschafferin oder Beschaffer in Rechtfertigungsnöten. Nicht so, wenn mit einem etablierten Vertragspartner etwas nicht nach Plan läuft, das war dann im Zweifel einfach nicht vorhersehbar. Die EU-Kommission greift die Problematik in ihrem “Leitfaden für eine innovationsfördernde öffentliche Auftragsvergabe” auf und führt aus: “Wichtig ist die Erkenntnis, dass eine innovationsfördernde Auftragsvergabe mit Risiken einhergeht. [...] Die Überwindung eines risikoaversen Verhaltens erfordert eine Änderung der Motivation öffentlicher Auftraggeber mit finanziellen und nicht finanziellen Anreizen”. Fragen der Motivation und der Incentivierung sind aber klassische Führungsaufgaben.

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VdZ:  Inwiefern beeinflusst der Fortschritt der Digitalisierung in Deutschland das Vorankommen einer innovativen Beschaffung? 

Theurer: Andersherum dürfte ein Schuh draus werden: Das (Nicht-)Vorankommen einer innovativen Beschaffung beeinflusst das (Nicht-)Vorankommen der Digitalisierung insgesamt. Und das nicht etwa, weil Vergabestellen immer noch zu einem großen Teil ohne eVergabe arbeiten würden. Die Probleme Deutschlands bei der Digitalisierung werden viel zu häufig auf den technischen beziehungsweise finanziellen Aspekt reduziert: "Der Bürger hat keinen Onlinezugang zu Service XY, also stellen wir Finanzmittel zur Verfügung, mit denen die erforderliche Technik eingekauft wird”. So der Gedanke beziehungsweise die Theorie. In der Praxis zeigt sich: Das viele Geld, das politisch für Digitalisierungsprojekte “lockergemacht” wird, kommt sehr häufig gar nicht im wirklichen Leben an. Einer der “Klassiker” auf diesem Gebiet: der Digitalpakt Schule – hier hinken die ausgegebenen Gelder seit Jahren hinter den zur Verfügung stehenden Mitteln her. Das wiederum liegt, wie schon erwähnt, nicht am mangelnden Einsatz von eVergabe, sondern daran, dass wir uns in unseren Verwaltungen über nunmehr Jahrzehnte hinweg Organisationsstrukturen und Prozesse geschaffen haben, die kaum mehr handhabbar sind. Gelder, die oben in diese Verwaltungsstrukturen “hineingekippt” werden, kommen schlicht nicht mehr durch das System hindurch. Linienstruktur und Mitzeichnungskette mögen in früheren Zeiten, in denen Laufruhe und Stabilität das Gebot der Stunde für eine funktionierende Verwaltung waren, operabel gewesen sein. In einem komplexen, schnelllebigen Umfeld hingegen sind sie das nicht mehr. Kurz gesagt: Mit den bisherigen Strukturen werden wir weiter anti-innovativ, anti-digital bleiben. Und um Strukturen zu ändern, brauchen wir wiederum das ganz dezidierte Engagement von Führungspersonen. 

VdZ: Wenn wir diese Problematik annehmen, welche Hebel müssen nun betätigt werden, um die innovative Beschaffung voranzubringen?

Theurer: Die Antwort lautet schlicht: Augen auf den Ball! Die Führungsebene von Behörden und Ämtern sollte erkennen, dass sie sich selbst aktiv einbringen muss. Die Änderung von Strukturen, aber eben auch Verhaltensweisen von Mitarbeitenden, ist kein Selbstläufer. Um voranzukommen, benötigt die Leistungsebene dabei zunächst mehr Transparenz über den Status quo. Kaum ein Behörden- oder Amtsleiter wird wissen, wie es in seinem Bereich um die Beschaffung von Innovationen bestellt ist. Diese Frage hängt eng mit dem Thema “Beschaffung von Technologien bei Start-ups" zusammen, da heutzutage eine Vielzahl innovativer Technologie aus diesem Marktsegment stammt. Interessant ist, ob ein öffentlicher Auftraggeber überhaupt schon einmal Aufträge an ein Start-up vergeben hat und wenn ja, wie viele. Aufschlussreich wäre außerdem zu wissen, in welchem Umfang sich Start-ups an den eigenen Ausschreibungen beteiligen, dann aber letztlich keinen Auftrag erhalten. Im Rahmen des Projekts “Start-up Beschaffungsindex” will das Kompetenzzentrum Innovative Beschaffung in Kooperation mit Staat-up e.V. öffentliche Auftraggeber daher motivieren, genauer hinzuschauen, diese Daten zu erheben und dann auf Basis der Erkenntnisse in der eigenen Organisation gezielt Maßnahmen umzusetzen, um künftig innovations- und Start-up-freundlicher ausschreiben zu können. In Deutschland steckt datenbasiertes Handeln von Politik und Verwaltung noch in den Kinderschuhen. Das Indexprojekt bietet einen praxisnahen Ansatz für Behördenleitungen, das zu ändern!