Nationale Sicherheitsinteressen werden auf beiden Seiten des Atlantiks neu definiert
– Mit Auswirkungen auf internationale Wertschöpfungs- und Lieferketten
USA / America First
Unter Verweis auf den Leitspruch America First rechtfertigen die USA ihre Handelspolitik wiederholt mit nationalen Sicherheitsinteressen. Die ‘Schutzinstrumente‘ der US-Regierung sind nicht auf Strafzölle beschränkt. Dies zeigt exemplarisch die Causa Huawei. Der chinesische Technologiekonzern gehört zu den weltweit führenden Telekommunikationsausrüstern. Die USA werfen Huawei vor, dass das Unternehmen nach chinesischem Recht verpflichtet sei, auf Geheiß der chinesischen Regierung Daten, aus seinen Netzwerken auszuhändigen. Konkret lautet der Vorwurf Washingtons, dass Huawei ‘Hintertüren‘ in seine Produkte einbaue. Dadurch werde die nationale Sicherheit der USA und ihrer Verbündeten bedroht. Die Maßnahmen der USA gegen Huawei treffen neben der privaten Beschaffung und der Exportkontrolle insbesondere die öffentliche Auftragsvergabe.
Auswirkungen des Handelskonflikts mit China auf das US-amerikanische Vergaberecht
Am Rande des Handelskonflikts mit China hat US-Präsident Donald Trump 2018 das Verteidigungs-Haushaltsgesetz – den John S. McCain National Defense Authorization Act („NDAA“) – für das Jahr 2019 unterzeichnet. Gemäß Abschnitt 889 NDAA ist US-Bundesbehörden der Kauf und Einsatz von Huawei-Technologie und Diensten untersagt. Das Verbot gilt für Komponenten, Dienstleistungen und Technologien, die für ein Regierungssystem als wesentlich oder kritisch erachtet werden.
Abschnitt 889(a)(1)(A) NDAA:
„(a) Prohibition on Use or Procurement.--(1) The head of an executive agency may not--(A) procure or obtain or extend or renew a contract to procure or obtain any equipment, system, or service that uses covered telecommunications equipment or services as a substantial or essential component of any system, or as critical technology as part of any system”
Zudem dürfen Bundesbehörden keine Geschäftsbeziehungen zu Dritten unterhalten, die substantiell Huawei-Ausrüstung einsetzen (Abschnitt 889(a)(1)(B) NDAA).
Abschnitt 889(a)(1)(A) NDAA haben die USA am 13. August 2018 in Kraft gesetzt. Interessierte Parteien haben bis zum 15. Oktober 2019 Gelegenheit zu der Interim Rule Stellung zu nehmen. Abschnitt 889(a)(1)(B) NDAA soll erst 2020 umgesetzt werden.
Wie schon in Abschnitt 889(f) NDAA festgelegt, erfasst der Begriff covered telecommunications equipment or services insbesondere von Huawei angebotene Telekommunikationsausrüstung. Danach dürfen US-Bundesbehörden zum Beispiel keine Überwachungskameras mit Huawei-Chips beschaffen.
Zur Definition des Begriffs critical technologies verweist Satz 52.204‑24 der Federal Acquisition Regulation („FAR“) auf den Foreign Investment Risk Review Modernization Act of 2018 (“FIRRMA”). FIRRMA dehnt die Investitionskontrollkompetenzen des Committee on Foreign Investment (CFIUS) zum Schutz nationaler Sicherheit weiter aus. Danach erfassen kritische Technologien zunächst ‚gelistete‘ Technologie gemäß der US-Exportkontrolllisten (U.S. Munitions List (USML) oder Commerce Control List (CCL)). Zusätzlich gelten die Beschränkungen für die neue Kategorie der emerging and foundational technologies. Noch steht eine abschließende Beschreibung dieser besonders sicherheitsrelevanten Technologien aus. Es ist zu erwarten, dass insbesondere Künstliche Intelligenz und Robotik und Biotechnologien darunter fallen werden. Das Ineinandergreifen von Investitionskontrolle und öffentlicher Auftragsvergabe zum Schutz nationaler Sicherheitsinteressen zeigt sich an dieser Schnittstelle deutlich.
Abschnitt 889 NDAA verursacht zusätzlichen Compliance-Aufwand für öffentliche Auftragnehmer. Insbesondere können sie ohne ein laufendes Screening der Lieferkette die geforderte Erklärung nicht abgeben.
Erklärung nach Abschnitt 899 NDAA:
The Offeror represents that—It [ ] will, [ ] will not provide covered telecommunications equipment or services to the Government in the performance of any contract, subcontract or other contractual instrument resulting from this solicitation.
Deutschland / Sicherheit durch nationale Souveränität
Die Forderung sicherheitsrelevante Schlüsseltechnologien zu schützen, wird auch in Deutschland zunehmend lauter. Als Reaktion darauf dreht die Bundesregierung zwei Stellschrauben im deutschen Vergabe- und Investitionskontrollregime spürbar enger.
Der Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe
Im Grundsatz gilt seit Erlass der Verteidigungsvergaberichtlinie 2009/81/EG („VSVgV“) im Bereich von Verteidigung und Sicherheit die Pflicht zur Durchführung eines förmlichen Vergabeverfahrens. Freilich bleibt das Primärrecht in Gestalt des Art. 346 AEUV neben der VSVGV anwendbar und kann durch nachrangiges Sekundärrecht nicht eingeschränkt werden. Unter Berufung auf die wesentlichen Sicherheitsinteressen Deutschlands kann gem. Art. 346 Abs. 1 lit. a) AEUV i.V.m. § 107 Abs. 2 Nr. 1 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen („GWB“) in Einzelfällen der Verzicht auf die Durchführung eines Vergabeverfahrens begründet werden. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs („EuGH“) können wesentliche Sicherheitsinteressen sowohl die äußere als auch die innere Sicherheit betreffen. Der Verzicht auf die Durchführung eines wettbewerblichen Vergabeverfahrens muss überdies in Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stehen.
Die industriepolitische Wende der Bundesregierung
Mit dem Koalitionsvertrag (Rn. 7537 ff.) hat die Bundesregierung eine industriepolitische Wende hin zu weniger Wettbewerb in der Rüstungs- und Sicherheitsbeschaffung eingeleitet, die sie weiter forciert. Am 30. August 2019 hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie („BMWi“) einen Referentenentwurf für ein Gesetz zur beschleunigten Beschaffung im Bereich der Verteidigung und Sicherheit und zur Optimierung der Vergabestatistik veröffentlicht. Danach soll § 107 Abs. 2 GWB wie folgt ergänzt werden:
§ 107 Abs. 2 GWB-E:
„[Satz 2:] Wesentliche Sicherheitsinteressen gemäß Art. 346 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union können insbesondere berührt sein, wenn der öffentliche Auftrag oder die Konzession verteidigungsindustrielle Schlüsseltechnologien betrifft.
[Satz 3:] Wesentliche Sicherheitsinteressen gemäß Art. 346 Absatz 1 Buchstabe a des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union können insbesondere berührt sein, wenn der öffentliche Auftrag oder die Konzession
1. sicherheitsindustrielle Schlüsseltechnologien betreffen oder
2. Leistungen betreffen, die
a) für den Grenzschutz, die Bekämpfung des Terrorismus oder der organisierten Kriminalität oder für verdeckte Tätigkeiten der Polizei oder der Sicherheitskräfte bestimmt sind, oder
b) Verschlüsselung betreffen,
soweit ein besonders hohes Maß an Vertraulichkeit erforderlich ist“ (Hervorhebung hier).“
„Verteidigungs- und sicherheitspolitische Schlüsseltechnologien“
Mit dem Auslegungshinweis in § 107 Abs. 2 S. 2 GWB-E wird klargestellt, dass wesentliche Sicherheitsinteressen im Sinne des Art. 346 Abs. 1 AEUV insbesondere berührt sein können, wenn ein öffentlicher Auftrag oder eine Konzession eine Technologie betrifft, die als verteidigungsindustrielle Schlüsseltechnologie eingestuft wird. Dies setzt nach der Gesetzesbegründung einen Beschluss des Bundeskabinetts voraus. Mögliche Anlässe wären die Verabschiedung des Weißbuchs der Bundeswehr oder eines Strategiepapiers. So hat die Bundesregierung im Strategiepapier zur Stärkung der Verteidigungsindustrie in Deutschland vom 8. Juli 2015 verteidigungsindustrielle Schlüsseltechnologiefelder in den Fähigkeitsdomänen Kryptotechnologie, Sensorik, Wirkung und Schutztechnologien definiert. Das Kabinett hat sich im Mai 2019 darauf verständigt, den Überwasserschiffbau zur verteidigungsrelevanten Schlüsseltechnologie zu erklären. Der Kabinettsbeschluss soll im Herbst folgen.
§ 107 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 GWB-E konkretisiert, dass wesentliche Sicherheitsinteressen gemäß Art. 346 Abs. 1 lit. a) AEUV berührt sein können, wenn der öffentliche Auftrag oder die Konzession sicherheitsindustrielle Schlüsseltechnologien betrifft. Die Einordnung einer Technologie als Schlüsseltechnologie im sicherheitsindustriellen Bereich soll ebenfalls durch einen Beschluss des Bundeskabinetts erfolgen. Überschneidungen mit der Kategorie der neu entstehenden und grundlegenden (emerging and foundational) Technologien in den USA sind wahrscheinlich.
Während sich die Regelung des § 107 Abs. 2 S. 2 GWB-E auf Art. 346 Abs. 1 AEUV insgesamt bezieht, gilt der Auslegungshinweis in § 107 Abs. 2 S. 3 GWB-E lediglich für Art. 346 Abs. 1 lit. a) AEUV und damit die Auslegung von § 107 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 GWB. Diese Differenzierung zwischen verteidigungsindustrielle und sicherheitsindustrielle Schlüsseltechnologien folgt aus den Vorgaben des europäischen Primärrechts. Voraussetzung für die Erteilung der Derogationsbefugnis nach Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV ist der militärische Bezug der Maßnahme. Aus dem Wortlaut des Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV im Zusammenspiel mit Art. 346 Abs. 2 AEUV ergibt sich, dass die mitgliedstaatliche Maßnahme „die Erzeugung von Waffen, Munition oder Kriegsmaterial oder dem Handel damit betreffen“ muss. Öffentliche Beschaffungen zu nicht-militärischen Sicherheitszwecken sind vom Anwendungsbereich des Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV) ausgeschlossen. Wann Güter und Waren „Waffen, Munition oder Kriegsmaterial“ im Sinne der Vorschrift sind, richtet sich nach dem Inhalt der Kriegswaffenliste vom 15. April 1958. Gelistet sind dort insbesondere konventionelle, nukleare, biologische und chemische Waffen sowie Apparate und Güter mit rein militärischer Zweckbestimmung. Das Gericht der EU vertritt die Auffassung, dass die Liste abschließend formuliert ist. Um den Erfordernissen der modernen Rüstungstechnik Rechnung zu tragen, ist jedoch eine dynamische Auslegung zu befürworten mit der Folge, dass Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV zumindest moderne Waffen und modernes Kriegsmaterial erfasst. Dagegen fehlt bei Art. 346 Abs. 1 lit. a) GWB – und korrespondierend dazu – § 107 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 GWB der einengende militärische Bezug der Maßnahme.
Die Definition nationaler verteidigungsindustrieller / sicherheitsindustrieller Schlüsseltechnologien ist strategisch wichtig und mit Blick auf die Sicherung nationaler Souveränität geboten. Außerdem bedeutet sie – wenn sie zurückhaltend fortgesetzt wird – einen Zugewinn an Rechtsklarheit und Transparenz. Freilich ist Art. 346 Abs. 1 AEUV – und seine nationale Zwillingsvorschrift § 107 Abs. 2 GWB – zu komplex, um den Dispens vom Vergaberecht allein über die Definierung von Fallgruppen vorbestimmen zu können. Jedes einzelne Beschaffungsvorhaben muss auch in Zukunft sorgfältig geprüft und die Entscheidung zur Direktvergabe im Lichte der Rechtsprechung des EuGH hinreichend substantiiert werden. Der Gesetzentwurf befindet sich derzeit in der Ressortabstimmung.
Der Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen im Rahmen der Investitionskontrolle
Anders als das geltende Vergaberecht enthält das Außenwirtschaftsrecht bereits eine Spezifizierung der wesentlichen Sicherheitsinteressen. § 5 Abs. 3 Außenwirtschaftsgesetz („AWG“) konkretisiert seit 2004 die in § 4 Abs. 1 Nr. 1 AWG genannten wesentlichen Sicherheitsinteressen Deutschlands dahingehend, dass hierzu sicherheitspolitische Interessen oder die militärische Sicherheitsvorsorge gehören. Rechtsgeschäfte über den Erwerb deutscher Unternehmen, die Kriegswaffen, andere Rüstungsgüter oder Produkte mit IT‑Sicherheitsfunktionen herstellen, können beschränkt werden, um die wesentlichen Sicherheitsinteressen zu gewährleisten. Im Lichte dieser Ermächtigungsgrundlage verleihen die §§ 60 bis 62 AWV dem BMWi die Kompetenz, Übernahmen durch Investoren aus Drittstaaten und EU Mitgliedstaaten, die verteidigungsrelevante Schlüsselunternehmen mit besonderer Sicherheitsrelevanz betreffen, umfassend zu kontrollieren und erforderlichenfalls zu untersagen.
„Verteidigungsrelevante Schlüsselunternehmen mit besonderer Sicherheitsrelevanz“
Zum Schutz einer ausreichenden militärischen Sicherheitsvorsorge erstreckte die Bundesregierung die sektorspezifischen Investitionsprüfregeln gem. § 60 Abs. 1 Nrn. 4, 5 AWV im Sommer 2017 zusätzlich auf die wehrtechnischen Schlüsseltechnologien Aufklärung (insb. Sensorik) und Unterstützung. Zu den verteidigungsrelevanten Schlüsselunternehmen mit besonderer Sicherheitsrelevanz zählten zuvor schon Hersteller oder Entwickler von Kriegswaffen (§ 60 Abs. 1 Nr. 1 AWV), von besonders konstruierten Motoren oder Getrieben für gepanzerte militärische Kettenfahrzeuge (§ 60 Abs. 1 Nr. 2 AWV) und von Produkten mit IT‑Sicherheitsfunktionen, die für die Verarbeitung staatlicher Verschlusssachen genutzt werden (§ 60 Abs. 1 Nr. 3 AWV). Der (Beteiligungs)erwerb dieser Unternehmen ist meldepflichtig, vgl. § 60 Abs. 3 AWV.
Ähnlich der Systematik des § 107 Abs. 2 GBW droht eine Untersagung der Unternehmenstransaktion jedoch erst bei festgestellter Gefahr für die wesentlichen Sicherheitsinteressen, nicht aber bei jeder Investition in die in § 60 Abs. 1 AWV enumerativ aufgezählten Unternehmen.
Fazit
Internationale Handelspolitik ist zunehmend von nationalen Sicherheitsinteressen geprägt. Dabei ist nicht nur der Bereich Investitionskontrolle gegenwärtig sehr dynamisch, sondern auch die Regeln zu Verteidigungs- und Sicherheitsvergaben. Die Implementierung eines Compliance-Managementsystems ist für Auftragnehmer auf beiden Seiten des Atlantiks zwingend geboten. Andernfalls können die Risiken entlang globaler Lieferketten aufgrund der zunehmenden Regelungstiefe des Vergaberechts nicht wirksam kontrolliert werden.