KI für mehr Arbeitssicherheit
Prävention im Bauwesen durch digitale Innovation – Ein Gespräch über Innovationen, Herausforderungen und den Weg nach vorn
Im Titelbild sind die Vertreter*innen aus dem Projektteam zu sehen, welches aus Mitarbeitenden der BG BAU, BG-Phoenics GmbH und Accenture SE bestand.
v.L.n.R. Prof. Dr. Gerhard Hammerschmid (Hertie School), Anja Pschigoda (BG BAU), Anja Scholz (BG BAU), Jennifer Meske (BG BAU), Ellen Hellmann (BG BAU), Maik Mieswa (BG BAU), Jakob Kort (BG BAU), Ellen Brüggemann (BG BAU), Richard Pump (BG-Phoenics GmbH), Michaela Jungwirth (Accenture SE).
Verwaltung der Zukunft: Könnten Sie unseren Leser*innen kurz erläutern, was Ihr Team macht und woran Sie generell arbeiten?
Ellen Hellmann (Projektleiterin Digitale Transformation & Unternehmensentwicklung | BG BAU): Die Berufsgenossenschaften haben den gesetzlichen Auftrag ihre Mitgliedsunternehmen bei der Gestaltung von sicheren und gesunden Arbeitsplätzen zu unterstützen und zu beraten. Da es nicht möglich ist, alle Mitgliedsunternehmen regelmäßig zu besuchen, setzt die BG BAU auf Künstliche Intelligenz (KI), um die richtigen Betriebe für eine unterstützende Präventionsberatung auszuwählen.
Bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten unterstützen die Berufsgenossenschaften ihre Versicherten mit der bestmöglichen Behandlung, Reha-Maßnahmen oder Renten geminderter Erwerbsfähigkeit. Um solche Fälle zu verhindern, setzt die BG BAU, auf Prävention, u. a. durch Baustellenbesichtigungen und Beratungsgespräche.
Rund 15 Prozent der meldepflichtigen Unfälle bei der BG BAU sind schwerwiegend und führen oft zu längeren Ausfallzeiten oder bleibenden Gesundheitsschäden. Diese Zahlen zeigen die Bedeutung der Präventionsarbeit. Ziel ist es, tödliche Unfälle zu verhindern und die Zahl schwerer Unfälle sowie Berufskrankheiten zu reduzieren.
Die BG BAU betreut etwa 600.000 Unternehmen, doch die rund 500 Aufsichtspersonen können nur ein Zehntel der Unternehmen mit erhöhtem Beratungsbedarf erreichen. Daher ist eine gezielte Auswahl notwendig.
VdZ: Der Public Leadership Award war nicht der einzige Preis für Ihr Projekt. Welche weiteren Auszeichnungen haben Sie und Ihr Team erhalten?
Hellmann: Wir waren auf der Konferenz der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) in Porto, die sich mit Prävention und Sicherheit im europäischen Raum beschäftigte, insbesondere im Bereich der Sozialversicherung. Dort wurden Best Practices gesucht, und wir haben uns mit unserem Projekt im Kontext der "Vision Zero"-Kampagne beworben. Diese internationale Kampagne hat sich zum Ziel gesetzt, Arbeitsunfälle auf Null zu reduzieren – ein sehr ambitioniertes Ziel, für das auch wir uns als Berufsgenossenschaft einsetzen. Unser Projekt zielt darauf ab, die Arbeitssicherheit in den Unternehmen zu steigern, die Beratungsbedarf haben, und Unfälle zu verhindern, bevor sie passieren. Aus über 100 Bewerbungen wurden wir ausgezeichnet, und ich durfte das Projekt in einer Session mit drei anderen internationalen Kolleg*innen vorstellen. Der Leadership Award beim Zukunftskongress in Berlin war dann unser zweiter Preis, und im September sind wir für den Working on Safety (WOS) Award nominiert, der von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) ausgerichtet wird. Dort sind wir auch für den Young Scientist Award nominiert.
VdZ: Wie läuft die Zusammenarbeit mit Kolleg*innen auf internationaler Ebene? Funktioniert das reibungslos?
Hellmann: Ja, das funktioniert sehr gut. Wir waren mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in Sydney auf dem World Congress on Safety and Health at Work, der im letzten November stattfand. Mein Kollege Jakob Kort hat dort mit Linda Wichman vom BMAS unser Projekt vorgestellt. Wir haben Verbindungen nach Australien, Indien und China geknüpft und festgestellt, dass großes Interesse besteht, insbesondere daran, wie wir das Projekt umgesetzt haben.
Unser Projekt basiert auf den KI-Leitlinien, die wir im KI-Netzwerk der Arbeits- und Sozialverwaltung unter der Schirmherrschaft des BMAS entwickelt haben. Diese Leitlinien sind auch international übertragbar. Obwohl der AI Act nur für Europa gilt, sind diese Regulierungen auch für andere Länder von Interesse, da es immer darum geht, KI menschenzentriert und verantwortungsvoll einzusetzen. Es ist spannend zu sehen, wie wir voneinander lernen können.
VdZ: Was war das genaue Ziel Ihres Projekts, und welche Vorteile bietet es?
Im BMAS-geförderten Leuchtturmprojekt „KI-basierte Unterstützung für zielgenaue Unfallprävention“ wurde eine KI-Anwendung auf Basis von Open-Source-Technologien mit rund 10 Millionen Datenpunkten entwickelt. Sie empfiehlt Aufsichtspersonen, welche Betriebe sie gezielt beraten sollten, um dort schwere und tödliche Unfälle zu vermeiden.
Hellmann: Unser Ziel war es, KI verantwortungsvoll einzusetzen. Dafür haben wir die besagten, selbstverpflichtenden KI-Leitlinien entwickelt und Fördermittel vom BMAS erhalten, um diese in einem konkreten Use Case anzuwenden.
Wir haben eine Longlist von Use Cases bewertet und uns für die KI-basierte Unfallprävention entschieden. Unsere Fragestellung war, wie wir die Ressourcen unserer 500 Aufsichtspersonen so steuern können, dass sie dort eingesetzt werden, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Mit unserem strukturierten Datenschatz konnten wir ein KI-Modell trainieren. In neun Monaten haben wir nicht nur ein Modell entwickelt, sondern auch eine komplette Plattform aufgebaut. Wir haben das Modell mit über 10 Millionen Datenpunkten trainiert und 60 verschiedene Modelle getestet. Letztendlich haben wir uns für ein Random-Forest-Modell entschieden, da es am besten passte.
Das KI-System gibt einen Score zwischen 0 und 1 aus, wobei 1 einen hohen Beratungsbedarf signalisiert. Die Scores werden im Ampelsystem angezeigt und helfen den Aufsichtspersonen, Prioritäten zu setzen. Das System wird wöchentlich aktualisiert, um aktuelle Daten wie neue Unfälle oder Seminarteilnahmen zu berücksichtigen.
Die Informationen werden nicht nur von den Aufsichtspersonen eingegeben, sondern auch von den Mitgliedsunternehmen und anderen internen Fachbereichen. Wir sammeln kontinuierlich Feedback, um das System zu verbessern. Es hilft den Aufsichtspersonen, ihre Ressourcen effizienter zu nutzen.
Natürlich ist es unrealistisch, eine 100-prozentige Trefferquote bei der Ermittlung von Beratungsbedarf zur Unfallverhütung zu erreichen, aber unser Ziel ist es, die Informationen weiter anzureichern und die Aufsichtspersonen auch bei der Vorbereitung von Gesprächen mit Mitgliedsunternehmen zu unterstützen.
"In einem Unternehmergespräch Zeit zu sparen, sei es in der Vorbereitung oder spontan, ist oft entscheidend. Unsere Zielrichtung ist es, dass sich Aufsichtspersonen schnell informieren können, um die Qualität der Beratungsgespräche zu erhöhen."
Wir arbeiten auch an einem Folgeprojekt, das einen 360-Grad-Blick auf ein Unternehmen ermöglicht. Hier stehen das Unternehmen und die KI-basierten Empfehlungen im Mittelpunkt, um die Aufsichtspersonen bestmöglich zu unterstützen.
VdZ: Sie erwähnten beim Award, dass noch viele weitere Projekte in Planung sind. Können Sie einige Ihrer aktuellen Favoriten vorstellen?
Hellmann: Ja, gerne. Unser neues Leuchtturmprojekt ist die KI-gestützte Besichtigungsassistenz (BeA), die wir in Zusammenarbeit mit sechs weiteren Berufsgenossenschaften entwickeln. Bei BeA gibt es zwei Haupt-KI-Services: eine Spracherkennung, die gesprochene Sätze von Aufsichtspersonen in Text umwandelt, und eine KI-basierte Mängelsuche, die hilft, die richtigen Mängel zu identifizieren und die Dokumentation zu erleichtern.
Bei den Besichtigungen auf Baustellen gibt es oft wiederkehrende Szenarien. Wir haben einen großen Katalog an rechtlichen Vorgaben, die die Aufsichtspersonen kennen müssen. Die KI unterstützt dabei, effektiver zu arbeiten und die Qualität der Dokumentation zu verbessern.
VdZ: Ist die Spracheingabe ausschließlich auf Deutsch beschränkt, oder funktioniert sie auch in anderen Sprachen, wie Englisch?
Hellmann: Wir konzentrieren uns auf Deutsch, da bei uns alle Aufsichtspersonen Deutsch sprechen. Es wäre aber möglich, andere KI-Modelle für verschiedene Sprachen zu integrieren. Derzeit trainieren wir die KI auch auf Akzente und Dialekte.
VdZ: Warum sind Menschen im Baugewerbe offener für den Einsatz von KI, während in der öffentlichen Verwaltung oft Skepsis herrscht? Gibt es bei Ihnen auch Skepsis gegenüber KI?
Hellmann: Ja, es gibt auch bei uns Skeptiker*innen. Unsere Aufsichtspersonen sind jedoch aufgrund gesetzlicher Neuerungen und der schnellen Wandlungen in der Baubranche eher an Veränderungen gewöhnt. Wir setzen viel auf offene Kommunikation und Aufklärung über KI. Wir haben eine KI-Awareness-Kampagne für die gesamte Belegschaft gestartet, um zu erklären, was KI ist und wie sie funktioniert. Zusätzlich bieten wir regelmäßig Fragestunden an, um offene Fragen zu klären.
Je häufiger die KI genutzt wird, desto besser wird die Unterstützung durch das KI-System. Dabei muss jedoch stets berücksichtigt werden, dass die endgültige Bewertung der Situation bei den Nutzer*innen verbleibt. Dieser Punkt ist sehr wichtig: Die KI gibt nur Empfehlungen ab, letztlich entscheidet der Mensch. Der größte Mehrwert entsteht dabei durch die Kombination aus menschlicher Erfahrung und datenbasierter Entscheidungsunterstützung.
Zudem ist und bleibt die Nutzung der KI-Tools freiwillig.
VdZ: Wahlmöglichkeiten sind wichtig, um die Menschen mitzunehmen. Langfristig entscheiden sich die meisten für effizientere und produktivere Arbeitsprozesse. Wie gehen Sie in Ihrem Bereich mit dem Thema Diskriminierung und ethischer Vertretbarkeit um?
"KI kann Daten viel schneller und genauer analysieren als ein Mensch, was ein großer Vorteil unseres Ansatzes ist."
Hellmann: Ja, definitiv. Unsere KI-Leitlinien widmen diesem Thema ein ganzes Kapitel. Wir führen intensive Bias-Analysen durch, um Verzerrungen in den Daten zu erkennen und zu minimieren. Wir überwachen kontinuierlich die Daten und Ergebnisse, um frühzeitig mögliche Diskriminierungen zu erkennen und Maßnahmen zu ergreifen.
Ein Beispiel ist, dass wir die Unfallzahlen und Mängel auf die Mitarbeitendenanzahl in einem Unternehmen beziehen, um Verzerrungen zu vermeiden. So können wir die Daten besser gewichten und realistischere Ergebnisse erzielen. Die KI kann Daten viel schneller und genauer analysieren als ein Mensch, was ein großer Vorteil unseres Ansatzes ist.
VdZ: Hat die Pandemie den Startschuss für das Projekt gegeben?
Hellmann: Nein, die Idee entstand schon vorher. 2020 gab es den offiziellen Startschuss, und Ende 2022 wurden die KI-Leitlinien veröffentlicht. Damit verbunden wurden auch Fördermittel für Leuchtturmprojekte vergeben. Die Fördergelder sind jetzt knapper, aber die langfristigen Einsparungen durch solche Projekte sind enorm. Es ist wichtig, den Mut zu haben, neue Wege zu gehen, auch wenn es Risiken gibt.
VdZ: Stichwort Führungskultur – Wie gehen Sie mit Mitarbeiter*innen im Themen-Kontext Digitalisierung und KI um, um ihre Ängste abzubauen und die Vorteile der neuen Technologien zu vermitteln?
Hellmann: Wichtig ist, dass jeder versteht, warum wir das tun und welchen Mehrwert es bringt. Begeisterung und offene Kommunikation sind entscheidend. Jeder sollte die Möglichkeit haben, seine Gedanken zu äußern und Teil des Teams zu sein. Man sollte Spaß daran haben, etwas umzusetzen. Das gilt auch für die Kommunikation mit Aufsichtspersonen und anderen Stakeholdern. Eine klare und transparente Kommunikation hilft, Ängste zu nehmen und Akzeptanz zu schaffen.
VdZ: Wir danken Ihnen herzlich für das tolle Gespräch.
Hellmann: Vielen Dank, es hat mir Spaß gemacht!
Public Leadership Award 2025
📅 Im kommenden Jahr wird der Public Leadership Award erneut vergeben, die Bewerbungsfrist beginnt Anfang 2025.
Weitere Informationen zur Shortlist und den weiteren Nominierten finden Sie hier.