Verwaltung der Zukunft: Die Digitalisierung der Sozialverwaltung in Deutschland ist entscheidend für ihre Zukunftsfähigkeit. Welche zentralen Faktoren sollten Ihrer Meinung nach bei der digitalen Transformation berücksichtigt werden, um eine effiziente und nachhaltige Umsetzung zu gewährleisten?
Rainer Binder: Die Digitalisierung der Sozialverwaltung in Deutschland muss insbesondere folgenden Prinzipien Rechnung tragen:
- Services der Sozialverwaltung sollten wo immer möglich proaktiv und präventiv erfolgen, um die Inanspruchnahme von Sozialleistungen im Idealfall vermeiden zu können.
- Sie sollten daten- und faktenbasiert funktionieren und auf die konkreten Bedürfnisse der Bürger:innen und Unternehmen zugeschnitten sein.
- Außerdem sollten die Services ganzheitlich in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Einrichtungen der Öffentlichen Verwaltung, aber auch der Privatwirtschaft erfolgen. Silodenken sollte vermieden werden, und es gilt, die wahren Ursachen zu identifizieren und anzugehen, warum Bürger:innen und Unternehmen Sozialleistungen in Anspruch nehmen müssen.
- Die technischen Möglichkeiten müssen unter Wahrung der Gesetze, Richtlinien und ethischen Standards genutzt werden.
- Die Rahmenbedingungen für die Sozialverwaltung unterliegen stetigen Veränderungen. Dies muss bei der Digitalisierung der Sozialverwaltung berücksichtigt werden. Es müssen agile und flexible Strukturen geschaffen werden – auch um die notwendige „Policy Agility“ zu erreichen.
Policy Agility bedeutet, dass Sozialversicherungen ihre Organisation, Prozesse, Angebote und unterstützenden (IT-)Systeme so gestalten sollen, dass sie diese schnell an ein sich änderndes Umfeld anpassen und politische Vorgaben schnell umsetzen können.
VdZ: Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz wird zu diesem Zweck immer wieder diskutiert. Wie würden Sie den besten Ansatz beschreiben, um KI sicher und erfolgreich in der Verwaltung zu integrieren?
Binder: Die Sozialverwaltungen sollten sich dem Thema Generativer KI vorsichtig nähern. In einem ersten Schritt gilt es, die entsprechenden Kompetenzen aufzubauen und die notwendigen Governance-Strukturen zu schaffen. Hierzu hat es sich bewährt, generative KI zuerst zur Optimierung interner Prozesse und Services einzusetzen (z. B. innerhalb der eigenen IT-Abteilung). Erst danach empfiehlt es sich, generative KI für Services an der Schnittstelle mit Kund:innen zu nutzen.
Die Sozialversicherung in Deutschland ist in den letzten Jahren die Digitalisierung sehr erfolgreich angegangen und es konnten bereits große Erfolge erzielt werden. Um nur ein Beispiel herauszuheben: Die BG BAU nutzt seit über einem Jahr sehr erfolgreich generative KI-Lösungen in der Prävention und vermeidet hierdurch in großem Stil Unfälle im Baugewerbe. Gleichzeitig werden die Mitarbeiter:innen hierdurch entlastet und die demografischen Herausforderungen adressiert. Aber natürlich gibt es neben dem bereits Erreichten noch viele Möglichkeiten, die Digitalisierung weiter auszubauen.
VdZ: Welche Potenziale sehen Sie für den Einsatz von Virtual Reality in der öffentlichen Verwaltung oder im sozialen Sektor, und wie könnte dies die Erfahrungen von Bürger*innen und Mitarbeitenden verbessern?
Binder: Virtual und Extended Reality im Bereich der Sozialverwaltungen kann verschiedentlich eingesetzt werden. In Frankreich gibt es beispielsweise bereits Angebote für Arbeitssuchende, die sich mittels VR-basierter Trainings auf Vorstellungsgespräche vorbereiten können. Ein anderes Beispiel ist der Bereich der Unfallversicherungsträger, in dem in Deutschland aktuell XR-basierte Trainings entwickelt werden, die Unternehmen helfen werden, durch die richtige Sicherung einer Baustelle o. ä. Unfälle zu vermeiden.
Aber auch in diesem Bereich werden sich mit der Weiterentwicklung der Technik und der zu erwartenden Kostenreduzierung in der Zukunft weitere Potenziale ergeben. Der Markt entwickelt sich derzeit schnell und es gibt viele Länder die aktuell ähnliche Anwendungsfälle planen.
VdZ: Können Sie uns weitere erfolgreiche Beispiele aus dem Ausland nennen, die als Inspiration für die deutsche Verwaltung dienen könnten?
Binder: Sehr gerne. Beispielhaft seien hier die folgenden Initiativen aus dem internationalen Kontext aufgeführt.
Extended-Reality-basierte Schulungen für Mitarbeitende: Insbesondere in Amerika werden bereits sehr erfolgreich XR-basierte Schulungsmethoden eingesetzt, um Mitarbeiter:innen der Sozialverwaltung auf (schwierige) Kundensituationen – z. B. im Bereich Child Welfare – vorzubereiten. Indem die Mitarbeiter:innen mittels XR lebensechte Szenarien durchlaufen, können sie die Situationen im Kundengespräch besser einschätzen, schnellere und bessere Entscheidungen treffen und die psychische Belastung in diesen schwierigen Situationen reduzieren.
In Ländern wie Großbritannien, Singapur oder Australien werden die Möglichkeiten, die generative KI bietet – insbesondere auf Basis der Cloud-Nutzung –, bereits sehr viel stärker als in Deutschland angewandt. Hierdurch können Services schneller, proaktiver und datengetriebener angeboten werden. Dies führt zu einer merklichen Entlastung der Mitarbeiter:innen, sodass diese sich stärker der direkten Arbeit mit den Kund:innen widmen können.
Aber auch bei der klassischen Automatisierung gibt es noch große Potentiale. So haben Länder wie z. B. Norwegen ihre Prozesse in der Sozialverwaltung bereits so stark automatisiert, dass über 80 % aller Fälle dunkelverarbeitet werden und Entscheidungen über Anträge auf Sozialleistungen oft (fast) in Echtzeit erfolgen.
Eine der wichtigsten Grundlagen für die weitere Digitalisierung ist unter anderem eine universell einsetzbare eID. Beispielhaft genannt sei hier der SingPass in Singapur mit deren Hilfe Bürger:innen in Singapur schnell und einfachen Zugang zu Sozialleistungen erlangen.
VdZ: Bezogen auf die eID: 2024 haben 22 % der Deutschen ihren elektronischen Personalausweis genutzt, in Singapur nutzen aktuell über 80 % der Menschen den Singpass. Was sind Ihrer Einschätzung nach die Gründe für diesen Unterschied?
Binder: Ein entscheidender Aspekt für den Erfolg und die Nutzungsquote digitaler Angebote in der Sozialverwaltung ist, wie bekannt diese Services sind und wie einfach sie genutzt werden können. Singapur bietet über den SingPass eine sehr einfache Möglichkeit, fast alle Services der Öffentlichen Verwaltung zu nutzen. Zudem wurde die Einführung und Nutzung von SingPass gezielt gefördert.
In Deutschland müssen wir diese Grundlagen teilweise erst noch schaffen und uns auf nationale Lösungen einigen, die von allen Institutionen der Öffentlichen Verwaltung mitgetragen werden. Und natürlich muss dies alles im Einklang mit den Vorhaben und Vorgaben der EU erfolgen.
VdZ: Das Thema Datenschutz wird in Singapur anders behandelt als in Deutschland. Denken Sie, dass die strengen Regelungen in Deutschland eines der größten Hindernisse für mehr Digitalisierung in der Sozialverwaltung darstellen?
Binder: Ja, die sehr strengen Regelungen sind sicherlich eines der größeren Hindernisse für mehr Digitalisierung in der Sozialverwaltung. Hier sollten in bestimmten Bereichen Vor- und Nachteile etwas ausgewogener betrachtet werden, schließlich kann (mehr) Datenaustausch dazu beitragen, Leben zu retten.

Als Satellit des Zukunftskongresses Staat & Verwaltung hat sich der ZuKo Sozialversicherungen in den letzten drei Jahren fest etabliert, um die Gestaltung einer zukunftsfähigen sozialen Sicherheit zu diskutieren. Auch 2025 wird er unter dem Leitmotiv Soziale Sicherheit im digitalen Wandel im Berliner Hotel de Rome ausgerichtet.
Der 4. ZuKo Sozialversicherungen findet am 26. November 2025 statt.