Die Rügeobliegenheit
Welche Ermittlungspflichten haben Bieter, die einen Vergaberechtsverstoß vermuten?
Bieter haben naturgemäß nur sehr eingeschränkten Einblick in die Abläufe und Entscheidungen eines Vergabeverfahrens. Aus diesem Grund kommt der Beachtung der Vergabegrundsätze (Transparenz, Gleichbehandlung und Wettbewerb) in Vergabeverfahren eine hervorgehobene Stellung zu. Folgerichtig vermittelt § 97 Abs. 6 GWB Bietern einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch darauf, dass der betreffende öffentliche Auftraggeber die Bestimmungen über das Vergaberecht einhält. Doch ist § 97 Abs. 6 GWB freilich nicht so weitgehend, als dass Bieter nunmehr jeden vermuteten Vergaberechtsverstoß einer gerichtlichen Überprüfung unterziehen könnten.
Das Gebot effektiven Rechtsschutzes steht im Vergaberecht mehr als anderswo im Spannungsverhältnis zum Interesse des Auftraggebers an einer zügigen Zuschlagserteilung und an der Vermeidung unnötiger Vergabenachprüfungsverfahren. Diesem Spannungsverhältnis verleiht § 160 GWB Ausdruck. § 160 Abs. 2 GWB fordert zunächst die Verletzung in bieterschützenden Vergabevorschriften ein. Vor allem aber begründet § 160 Abs. 3 GWB eine Rügeobliegenheit.
Öffentliche Auftraggeber sind an das Vergaberecht gebunden
§ 97 Abs. 6 GWB gewährt Bietern einen Anspruch darauf, dass öffentliche Auftraggeber das Vergaberecht beachten. Ein Vergaberechtsverstoß kann jedoch nur erfolgreich im Wege eines Nachprüfungsverfahrens geltend gemacht werden, wenn der Bieter den behaupteten Vergaberechtsverstoß rechtzeitig gegenüber dem Auftraggeber rügt.
Das Erfordernis einer frühzeitigen Rüge unter möglichst klarer Benennung des Vorwurfs soll dem Auftraggeber die Möglichkeit geben, den vermeintlichen Vergaberechtsverstoß zunächst außergerichtlich zu beheben. Weiter sollen unnötige Verzögerungen in der Vergabe und ein Missbrauch von Rechtsmitteln vermieden werden. Dementsprechend hat sich in der Spruchpraxis die Meinung durchgesetzt, dass gänzlich unsubstantiierte Rügen und/oder sogenannte Rügen „ins Blaue hinein“ ein Nachprüfungsverfahren nicht erfolgreich in Gang setzen können.
Grundsätzlich ist an den Inhalt von Rügen ein großzügiger Maßstab anzulegen. Da ein Bieter naturgemäß nur begrenzten Einblick in den Ablauf eines Vergabeverfahrens hat, darf er im Vergabenachprüfungsverfahren behaupten, was er auf der Grundlage seines – oftmals nur eingeschränkten – Informationsstands redlicherweise für wahrscheinlich oder möglich halten darf.
Der Verdacht muss begründet sein
Mit seiner Entscheidung vom 16. August 2019 (Verg 56/18) hat das OLG Düsseldorf die Anforderungen an eine Rüge für den Fall präzisiert, dass der Bieter den Vergaberechtsverstoß mangels Einsicht in die Abläufe des Vergabeverfahrens lediglich vermutet: Hege ein Bieter Bedenken gegen die Eignung eines Konkurrenten, müsse dieser seine Rüge unter Ausschöpfung aller ihm zugänglichen Erkenntnisquellen verifizieren. Der Bieter müsse zumindest tatsächliche Anknüpfungspunkte oder Indizien vortragen, die den Verdacht auf einen Vergaberechtsverstoß hinreichend begründen. Reine Vermutungen zu eventuellen Vergabeverstößen reichten nicht aus. Dies gelte grundsätzlich auch, wenn sich der Vergaberechtsverstoß ausschließlich in der Sphäre der Vergabestelle abspielt oder das Angebot eines Konkurrenten betrifft.
Zur Substantiierung der Rüge müsse der Bieter die ihm im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren zugänglichen Erkenntnisquellen ausschöpfen und seine Informationsquelle benennen. Das OLG Düsseldorf hält es für grundsätzlich nicht ausreichend, wenn sich der Vortrag des Bieters in der bloßen Behauptung erschöpft, sein Konkurrent sei „seiner Kenntnis nach“ oder „nach der Informationslage des Unternehmens“ nicht geeignet. In diesem Fall fehle es an einer begründeten Verdachtslage.
Rügeobliegenheit bei fehlender Einsicht in die Abläufe des Vergabeverfahrens: Der Bieter muss den vermuteten Vergaberechtsverstoß unter Ausschöpfung aller ihm zugänglichen Erkenntnisquellen verifizieren. Die Erkenntnisquellen sind in der Rüge anzugeben. Anderenfalls handelt es sich um eine bloße Behauptung „ins Blaue hinein“. Der Nachprüfungsantrag ist dann unzulässig.
Obwohl die Rüge im konkreten Fall nicht die vom OLG Düsseldorf geforderte Substantiierung aufwies, entschied der Senat über den Nachprüfungsantrag. In seinem Beschluss verhält sich das Gericht nämlich auch zu den Voraussetzungen, unter denen eine Rüge ausnahmsweise entbehrlich ist. Die Rügeobliegenheit des § 160 Abs. 3 GWB entfällt gemäß § 242 BGB, wenn die Rüge ihren Zweck von vornherein nicht erfüllen kann, weil der öffentliche Auftraggeber unmissverständlich zu erkennen gibt, dass seine Entscheidung final und unumstößlich ist. In solchen Fällen entfalle das Erfordernis einer substantiierten Rüge aus Gründen bloßer Förmelei.
Ungeschriebene Verzichtbarkeit der Rüge gemäß § 242 BGB bei Zweckverfehlung.
Bieter sollten den Beschluss des OLG Düsseldorf jedoch keineswegs zum Anlass nehmen und auf die Substantiierung ihrer Rüge zu verzichten. Denn letztlich hängt die Unzulässigkeit des Nachprüfungsantrags wegen unzureichender/fehlender Rüge von der Reaktion des öffentlichen Auftraggebers ab. Prüft dieser – auf Grundlage vager Behauptungen des Bieters – den angeblichen Vergaberechtsverstoß und hält so unumstößlich und für den Bieter eindeutig erkennbar an seiner Entscheidung oder seiner Vorgehensweise fest, mag die Rügeobliegenheit mit dem OLG Düsseldorf ausnahmsweise entfallen. Gleichwohl lässt die allgemein ablehnende Reaktion des öffentlichen Auftraggebers das Rügeerfordernis nicht automatisch entfallen. Anderenfalls wäre § 160 Abs. 3 GWB sinnentleert. Die von der Rechtsprechung entwickelten Fallgruppen zur Entbehrlichkeit der Rüge unterliegen als Ausnahmen einer restriktiven Handhabe und der sorgfältigen Einzelfallbetrachtung. Für die Bieter bleibt es dabei: Vermutete Vergaberechtsverstöße bedürfen grundsätzlich der rechtzeitigen und hinreichend substantiierten Rüge!