„Es gibt kein Ziel, das nicht möglicherweise gefährdet ist“
Im Interview berichtet der Berater für Terrorismusbekämpfung Yan St-Pierre wie Bedrohungsanalysen erstellt und Maßnahmen daraus abgeleitet werden.
VdZ: Im Februar 2020 wurde in der nordhessischen Kleinstadt Volkmarsen der Rosenmontagsumzug mit einem Auto angegriffen, es gab dutzende Opfer. Hätten Sie Volkmarsen für ein gefährdetes Ziel gehalten?
St-Pierre: Es gibt kein Ziel, das nicht möglicherweise gefährdet ist, vor allem weil es in der Tat selten um Terrorismus geht, sondern viel häufiger um unberechenbare Vorfälle wie z. B. Unfälle, Suizidversuche oder hoch emotionale, impulsive Taten. Noch wichtiger ist, dass Täter, egal ob Terroristen oder andere, fast immer Orte angreifen, die sie kennen, wie der Vorfall in Volkmarsen wieder gezeigt hat. Die Vertrautheit mit einem Ort ist einer der wichtigsten Faktoren bei der Auswahl eines Zieles, seien es Dörfer, Kleinstädte oder Metropolen.
VdZ: Wie gehen Sie vor, wenn Sie eine Gefährdungsanalyse als Grundlage für ein Zufahrtsschutzkonzept erstellen?
St-Pierre: Ich beginne mit einer Datenanalyse aller Überfahrtaten weltweit, um die gemeinsamen Nenner wie durchschnittliche Beschleunigungsstrecke, Geschwindigkeit, Art des Ziels oder Modi Operandi der Täter zu ermitteln. Diese Daten werden kontinuierlich aktualisiert und daraus entsteht unser Grundstein für die Zielattraktivitätsanalyse.
Wir passen die Daten an den lokalen Kontext an.
Weil jeder Ort seine Besonderheiten hat, müssen wir die Daten kontextualisieren. Wie sind die gemeinsamen Nenner an diesem Ort anwendbar? Wie ist die politische Situation vor Ort? Gibt es eine Historie von Bedrohungen oder extremistischen Aktivitäten? Was sind die lokalen Besonderheiten, die ein Ziel attraktiv machen könnten? Kurz gesagt, wir passen die Daten an den lokalen Kontext an. Erst danach führen wir die Bedrohungsanalyse durch. Natürlich ist diese nicht so aufwendig wie die der Behörden und deshalb ist eine gute Beziehung zur lokalen Behörde und Entscheidungsträgern sehr wichtig. Nichtdestotrotz müssen wir unsere eigene Bedrohungsanalyse erstellen, um zu wissen, ob die aktuelle Lage die Bedrohung für das jeweilige Ziel verschärft oder entschärft, oder ob es überhaupt klare Bedrohungen für den Ort gibt, die eventuell bestimmte Sicherheitslücken ausnutzen könnten. Letztendlich können wir durch diese Bedrohungsanalyse die Zielattraktivitätsmatrix sowie das Zufahrtsschutzkonzept aktuell halten, weil wir mögliche Bedrohungen auf dem Schirm haben.
VdZ: Woran machen Sie fest, ob eine Großveranstaltung gefährdet ist?
St-Pierre: Eine Großveranstaltung ist immer gefährdet, deshalb ist die Frage nicht "ob" sondern "wie". Weil wir mit "Wie" arbeiten, können wir mögliche Konsequenzen reduzieren, falls etwas passiert, egal ob es sich um Terrorismus oder einen Angriff wie in Volkmarsen handelt. Um dieses "Wie" zu beantworten, haben wir unseren Datenbaustein, mit dem wir zuverlässige und überall anwendbare Zielattraktivitätsbilder entwickeln, um die Sicherheitslücken zu analysieren und zu korrigieren.
VdZ: Ließen sich aus dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz 2016 Lehren für die heutige Terrorabwehr ziehen?
St-Pierre: Absolut! Jeder Anschlag bietet wichtige Lehren, aber der Anschlag am Breitscheidplatz hat darüber hinaus eine besondere Bedeutung, weil er gezeigt hat, wie der Berliner- und der bundesweite Sicherheitsapparat mit solchen Anschlägen umgehen.
Eine Großveranstaltung ist immer gefährdet, deshalb ist die Frage nicht "ob" sondern "wie".
Zusätzlich zeigt dieser Fall aus terroristischer Perspektive, dass das Angriffsmittel opportun sein kann und dass die Vorbereitungen nicht aufwendig sein müssen, sondern aus einer günstigen Beobachtung von Tendenzen und Gewohnheiten entstehen können. Der Terrorist hat die regelmäßigen Gewohnheiten des Fahrers - wo er sich aufhält und parkt - beobachtet und konnte seine Tat zumindest teilweise mit Hilfe dieser Observationen planen.
VdZ: Hilft Ihnen der Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei Ihrer Arbeit?
St-Pierre: Sowohl die NSA, als auch GCHQ sind immer noch weit davon entfernt, KI entsprechend zu nutzen, umso mehr für sehr komplexe Themen wie Terrorismus. Allerdings ist Technologie zurzeit sehr hilfreich bei der Beobachtung des Austausches zwischen Extremisten und vor allem bei der Entfernung von extremistischem Material, das entweder inspirieren oder anleiten soll. In diesem Bereich sind die Mittel, die für den Kampf gegen Kinderpornografie entwickelt wurden - z. B. Algorithmen, die sofort hochgeladenes Material binnen Sekunden abfangen können - sehr hilfreich. Aber das Problem bleibt immer dasselbe: Wie wird die Technologie angewendet und wer bestimmt die Kriterien dafür? Die Entwicklung von Algorithmen, die Tendenzen entdecken können, ist super, aber die menschliche Komponente bleibt nach wie vor notwendig, egal wie gut die Technologie ist.