Ist Schweigen immer Gold?
Ein Beitrag zum Spannungsverhältnis zwischen ärztlicher Schweigepflicht und dem Schutz unserer Kinder vor Missbrauch und Gewalt
Dass (auch) in Deutschland die Ärzteschaft einer „Schweigepflicht“ unterliegt, dürfte allgemein bekannt und auch unbestritten sein. Jedenfalls im Grundsatz.
Etwas komplizierter wird es, wenn es um ganz bestimmte Details geht, zum Beispiel um die Frage, ob diese Schweigepflicht auch über den eigenen Tod hinweg gilt (grundsätzlich ja), und ob auch gegenüber anderen Ärztinnen und Ärzte (ebenfalls ja). Sie umfasst neben den personenbezogenen Daten der Patientinnen und Patienten auch deren mündliche und/oder schriftlichen Angaben, die Diagnosen und Befunde, empfohlene Therapien und gegebenenfalls verschriebene Medikamente.
Allerdings, so auch hier, keine Regel ohne Ausnahme! Konkretes Beispiel: Wenn ein Arzt im Rahmen seiner Behandlung Kenntnis davon erlangt, dass sein Patient ein Verbrechen plant, in dessen Folge die Gesundheit anderer schwer beeinträchtigt werden könnte, gilt § 34 StGB, „rechtfertigender Notstand“. Dann darf die Polizei durchaus zum Zwecke der Gefahrenabwehr informiert werden.
Geregelt wird das alles in der „Musterberufsordnung für in Deutschland tätigen Ärzte“ und in den Berufsordnungen der jeweiligen Landesärztekammern. Verstöße können nicht nur zivilrechtliche Folgen haben sondern auch strafrechtliche, nähere Auskünfte erteilt hier § 203 StGB.
Natürlich können Patientinnen und Patienten ihre Ärzte von dieser Pflicht zur Verschwiegenheit befreien, aber gerade diejenigen, die ihre Kinder – auf welche Weise auch immer – misshandeln, werden genau das NICHT tun, denn sie müssten damit rechnen, dass die behandelnden Ärzte das Jugendamt und/oder die Strafverfolgungsbehörden von ihrem Verdacht unterrichten.
Etwa dann, wenn ein Kind Verletzungen aufweist, deren Ursachen nicht oder nicht plausibel erklärt werden können, nach ärztlicher Erfahrung aber durchaus Indizien vorhanden sind, die Rückschlüsse auf Missbrauch oder Gewalt zulassen: Wenn etwa das Kind „gerade gestern erst mal wieder gestürzt ist“ oder blaue Flecken oder gar Verletzungen hat, die nicht zum geschilderten Ereignis passen. Nicht selten in Verbindung mit sogenanntem „doctor hopping“, einem regelmäßigen Wechsel der Arztpraxis, damit die immer gleichen Geschichten zum Ursprung der Verletzungen nicht schnell als Märchen enttarnt werden.
Jede Ärztin, jeder Arzt wird sorgfältig prüfen, ob ein Verdachtsfall gemeldet wird oder nicht. Ein falscher, weil objektiv unbegründeter Verdacht kann das Arzt-Patienten-Verhältnis rasch komplett ruinieren, selbst wenn der Verdacht nicht leichtfertig geäußert wurde.
Umgekehrt: Unterbleibt eine Meldung aus Angst vor dieser Folge oder gar strafbarem Verhalten, liegt den Verletzungen aber tatsächlich Missbrauch zugrunde, kann das für das Kind dramatische Folgen haben.
Nach einer Gesetzesinitiative des Landes NRW soll sich die Ärzteschaft bei einem „hinreichenden Verdacht“ austauschen dürfen – ohne Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen.
So bietet zum Beispiel der Duisburger Verein RISKID schon seit längerem eine solche Plattform zum Austausch an. Wann aber ist ein Verdacht „hinreichend“?
Problematisch sind ja nicht die sogenannten „roten Fälle“, bei denen eindeutige Spuren von Misshandlungen leicht zu erkennen sind. Dann erfolgt in der Regel zeitnah eine Meldung an die Jugendämter. Problematischer – und auch häufiger – sind die „gelben Fälle“, bei denen die Spurenlage nicht so eindeutig ist, die Ärzteschaft aber auf Grund ihrer Erfahrungen berechtigtes Misstrauen hegt. Rustikal formuliert: ein flaues Gefühl in der Magengegend hat: „Hier stimmt was nicht, da müsste sich mal das Jugendamt darum kümmern!“
Deshalb ist es so wichtig in einem Gesetz – so eindeutig wie möglich – festzulegen, welche Voraussetzungen vorliegen müssen, damit ein Verdacht als „hinreichend“ bezeichnet werden kann.
Der Bund Deutscher Kriminalbeamter NRW weist zu recht darauf hin, dass zwischen dem Recht eines jeden Kindes auf körperliche Unversehrtheit und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung von Kind und Eltern abgewogen werden müsse.
Bleibt zu hoffen, dass diese Abwägung zugunsten des Kindeswohls erfolgt.
Der Autor ist Kongresspräsident des Berliner Kongresses für Wehrhafte Demokratie. Von 1994 bis 2017 war Wolfgang Bosbach Mitglied des Deutschen Bundestages und dort unter anderem von 2000 bis 2009 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU Bundestagsfraktion für den Bereich Innen- und Rechtspolitik und von 2009 bis 2015 Vorsitzender des parlamentarischen Innenausschusses.