Paul Welter DJS
© Simone M. Neumann

"Unser Rechtssystem stammt aus einer Zeit, in der nur Menschen juristisch denken konnten"

Paul F. Welter über den Einsatz von KI in Rechtssystemen

Die Justiz steht vor einem technologischen Wandel, der traditionelle Strukturen auf den Prüfstand stellt. Paul F. Welter, Beiratsmitglied des Digital Justice Summit, erklärt, wie Künstliche Intelligenz die Zukunft der Rechtssysteme mitgestalten und zu einer effizienteren Durchsetzung von Recht beitragen kann.

Verwaltung der Zukunft: Sie sind Mitglied im Beirat des DJS. Was erwartet die Besucher*innen, worauf liegt der diesjährige Fokus und was soll der DJS bewirken?

Paul F. Welter: Der erste Digital Justice Summit fand vor zwei Jahren statt, als ChatGPT gerade erst veröffentlicht worden war. Der Fokus lag zunächst darauf, überhaupt ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass sich Justiz und Ausbildung verändern müssen. Ein Hauptgrund war die Pensionierung vieler Richter, die zu einem erheblichen Personalrückgang führt. Wir propagierten Digitalisierung als Lösung hierfür, daher der Name des Summits. Damals fehlte es der Justiz noch weitestgehend an Räumen, in denen Innovation gedeihen konnte. Inzwischen überwinden wir diese Phase immer mehr und es herrscht Einigkeit, dass die Justiz mehr Digitalisierung braucht. Staatliche Initiativen unterstützen diesen Wandel. Dieses Jahr liegt der Schwerpunkt daher weniger auf der Notwendigkeit der Veränderung, sondern auf der Frage, wie diese konkret umgesetzt wird. Besucher des Summits können sich auf Diskussionen über die Implementierung neuer Technologien freuen, insbesondere unter Berücksichtigung der nach dem letzten DJS in Kraft getretenen KI-Verordnung.

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Unser Rechtssystem stammt aus einer Zeit, in der nur Menschen juristisch denken konnten. Mit der Einführung von KI besteht jedoch Anlass, diese Prämisse zu hinterfragen.

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VdZ: Sie leiten das Plenum "Jura ohne Juristen: Gestaltung von Rechtssystemen auf der grünen Wiese". Würden Sie erklären, worum es dabei geht?

Welter: Unser Panel fragt, wie wir Rechtssysteme heute auf der grünen Wiese gestalten würden – ohne bestehende Strukturen, aber mit den heutigen technologischen Möglichkeiten. Unser Rechtssystem stammt aus einer Zeit, in der nur Menschen juristisch denken konnten. Mit der Einführung von KI besteht jedoch Anlass, diese Prämisse zu hinterfragen. Das Panel erörtert dies anhand von zwei Beispielen: Erstens die Frage, ob wir KI-Richter einsetzen würden, sobald diese effizienter als menschliche Richter sind, oder ob andere Prinzipien dem entgegenstehen. Zweitens die Rolle des Dispositions- und des Beibringungsgrundsatzes: Sollte KI, wenn sie in der Lage ist, Rechtsbrüche selbst zu bemerken und Fakten selbst zu ermitteln, das Recht von selbst durchsetzen, ohne dass zum Beispiel ein Verbraucher selbst klagen, darlegen und beweisen muss? Ziel ist es, herauszufinden, ob wir die heute wirksamen Designentscheidungen wieder so treffen würden oder ob wir den in diesen Entscheidungen zum Ausdruck kommenden Prinzipienausgleich nunmehr anders vornehmen würden, sprich: KI einen Paradigmenwechsel für die Justizarchitektur darstellt.

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VdZ: Wie würde Ihr ideales Justizsystem aussehen, wenn Sie es von Grund auf erneuern könnten?

Welter: Das Ziel eines Rechtssystems ist es, die Kluft zwischen dem rechtlich gewünschten Soll-Zustand und dem tatsächlichen Ist-Zustand zu schließen. Aktuell leiden die Systeme zum Beispiel unter Personalmangel, langen Verfahrenszeiten, hohen Kosten, geringer Nutzerfreundlichkeit und Prozessrisiken. Letzteres hängt auch damit zusammen, dass Parteien nicht immer prognostizieren können, was für eine Überzeugungskraft von ihrem Tatsachenvortrag und ihren rechtlichen Argumenten auf den Richter ausgeht. Dies kann u. a. Rechtssuchende davon abhalten, ihre Rechte durchzusetzen – abgesehen davon, dass viele Laien gar nicht erst um ihre Rechte wissen. All dies – diskutiert unter dem Begriff „Access to Justice“ – verhindert, dass Recht und damit der demokratische Wille Wirklichkeit wird.

Ich finde, Recht müsste sich auch von allein durchsetzen und dort, wo das nicht geht, jedenfalls einfacher und effizienter durchgesetzt werden können. Dabei kann vieles helfen. Fangen wir oben an: Schon der Regelungsgehalt von Gesetzen könnte in einer computerfreundlicheren Form als natürlicher Sprache ausgedrückt werden. Dies würde Ambiguität reduzieren und zu weniger divergierenden Richtersprüchen führen. Die Gesetze könnten mehr digitale Technologien einspannen, um ihre eigene Durchsetzung zu verbessern. Auf diese Weise kann ein Gesetz die Realität so umbauen, dass in ihr gar nicht mehr gegen das Gesetz verstoßen werden kann (sog. embedded law). Wenn es dann dort, wo das nicht möglich ist, doch zu einem Verstoß kommt, so könnte KI diesen in bestimmten Fällen automatisch ahnden. Jeder Mensch mit Internetanschluss kann innerhalb weniger Minuten herausfinden, dass ein Flug stark verspätet war, es keine extremen Witterungsbedingungen und auch keine Störungen am Flughafen gab. Das kann man im Internet recherchieren. Wieso muss dann immer noch jeder einzelne Passagier eines Fluges diese Umstände in einen Fließtext gießen, an das Gericht schicken, den Gerichtskostenvorschuss zahlen und die Tatsachen im Bestreitensfall beweisen (lassen)? KI-Agenten könnten diese Fälle automatisch ahnden. Und da, wo das nicht geht, könnten Technologien wie der strukturierte Parteivortrag oder KI-Entscheidungshilfen jedenfalls den Rechtsdurchsetzungsprozess einfacher, vorhersehbarer und effizienter machen.

VdZ: Wo sehen Sie Potenziale durch KI und Automatisierung, die aktuell noch nicht genutzt werden?

Welter: Soweit ich das beurteilen kann, wird KI in der Justiz allenfalls als Assistenz für menschliche Richter eingesetzt, etwa um den Prozessstoff zu durchdringen oder Entscheidungen zu formulieren. Der große Wurf aber, also das ganze System so umzubauen, dass ideale Bedingungen für KI und andere Technologien geschaffen werden und man diesen Technologien auch mehr als nur bloße Unterstützung zutraut, steht noch aus. Wie das aussehen könnte, habe ich gerade skizziert.

VdZ: Es gibt Bedenken, dass durch die Digitalisierung und den Einsatz von KI auch Arbeitsplätze abgebaut oder das Arbeitsspektrum stark verändert werden. Ist diese Sorge berechtigt, oder gibt es sogar daraus resultierende neue Stellen?

Welter: Zunächst finde ich es grundsätzlich schwierig, den Abbau von Arbeitsplätzen als Argument gegen die Einführung von Technologie ins Feld zu führen. Wenn Digitalisierung dabei helfen kann, das Recht effizienter und effektiver durchzusetzen, dürften die Interessen der Allgemeinheit gegenüber denen der Juristen, für obsolet gewordene Arbeit weiterhin üppig bezahlt zu werden, überwiegen. Auch Juristen müssen mit der Zeit gehen und eigenverantwortlich dafür Sorge tragen, dass sie Kompetenzen vorhalten, die auch in der Zukunft nachgefragt werden. Es ist nicht einzusehen, wieso die rechtssuchende Bevölkerung dafür einstehen soll, wenn den Juristen dies nicht gelingt.

Abgesehen von diesen grundsätzlichen Überlegungen glaube ich aber nicht, dass die Digitalisierung unterm Strich zu weniger Arbeitsplätzen führen wird. Es wird vielmehr der Personalbedarf wegfallen, der ohnehin schon heute nicht mehr zu besetzen ist.

Und ja, wie Sie andeuten, wird die Digitalisierung auch zu neuen Stellen führen. Es wird notwendig sein, Fachleute auszubilden, die sicherstellen, dass etwa die KI-Systeme korrekt arbeiten. Zuletzt wird sich auch das von Ihnen angesprochene Arbeitsspektrum verändern. Die Gerichte der unteren Instanzen werden von vielen gleichgelagerten Fällen in Atem gehalten (Stichworte: Diesel, Fluggastrechte, Asylrecht). Solche gleichgelagerten Fälle eigenen sich gut für Automatisierung. Dasselbe gilt für verwaltende Tätigkeit wie die Dezernatsarbeit. Im Ergebnis werden Juristen mehr Zeit für komplexe Rechtsfragen und die Auseinandersetzung mit Fällen haben, in denen ein menschlicher, empathischer Richter wirklich von Nöten ist. Juristen können also wieder mehr Jura machen. Ist das nicht eine gute Nachricht?

VdZ: Zudem gibt es Bedenken bezüglich der Unfehlbarkeit von KI. Diese kann sich nur auf Fakten beziehen, aber keine Entscheidungen auf Moral und Ethik basieren. Wie kann garantiert werden, dass KI nicht nur rechtskonform, sondern auch fair ist? Welche Mechanismen müssen entwickelt werden, um Transparenz und Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten?

Welter: Die Frage nach der ethischen Kompetenz von KI ist von überragender Bedeutung. Urteile ergehen im Namen des Volkes. Mit ihnen nimmt der Richter eine Funktion wahr, die das Volk über eine demokratische Legitimationskette in seine Hände gelegt hat. In dem Richterspruch meldet sich das Volk zu Wort. Dieses soziale Element ist unbedingt zu erhalten. Auch im Digitalzeitalter muss der Adressat eines Urteils in diesem den Ausspruch seiner Mitmenschen erkennen können. Es darf nie dazu kommen, dass KI-Richter gewissermaßen aus eigener Machtvollkommenheit handeln. KI hat keine eigene Ethik zu entwickeln. Das ist Sache der Menschen. Soweit die Menschen dies aber getan haben, etwa in Form eines Gesetzes oder in Form gefestigter Rechtsprechung, spricht m. E. nichts dagegen, dass KI sich diesen ethischen Entscheidungen unterwirft und sie anwendet.

Was die Unfehlbarkeit angeht: In der Tat ist KI bzw. sind die Deep-Learning-Modelle, die mit „KI“ meist gemeint sind, nach heutigem Stand nicht unfehlbar. Es steht wohl sogar das Gegenteil fest. Die heutigen Modelle sind sehr gut darin, Muster zu erkennen, aber nicht darin, Korrelation von Kausalität zu unterscheiden und logische Denkprozesse durchzuführen. Dasselbe gilt für die Herleitung und Erklärung ihrer Ergebnisse. Zudem können Menschen nur bedingt Einfluss auf die von den Modellen ausgeworfenen Ergebnisse nehmen, sie also nicht im deterministischen Sinne steuern.

So können die Modelle isoliert den Anforderungen eines Rechtsstaats nicht genügen. Ich habe aber großes Vertrauen in die zukünftigen Entwicklungen. Die genannten Probleme sind bekannt und es wird intensiv an ihrer Lösung gearbeitet. Mein eigenes Unternehmen etwa, die bayshore AI GmbH, kombiniert zu diesem Zweck traditionelle Methoden wie Logikprogrammierung und Knowledge Graphs mit Deep-Learning-Modellen.

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Es darf nie dazu kommen, dass KI-Richter gewissermaßen aus eigener Machtvollkommenheit handeln. KI hat keine eigene Ethik zu entwickeln. Das ist Sache der Menschen.

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© Simone M. Neumann

VdZ: In welchen Bereichen sind Ihrer Meinung nach menschliche Entscheidungen weiterhin unverzichtbar?

Welter: Das hängt von verschiedenen Faktoren ab. Ein Faktor ist, ob die zu entscheidende Rechtssache korrespondierend zu den Revisionsvoraussetzungen (z. B. in § 543 II 1 ZPO) grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert. Dies sind Fälle, die KI (Stand heute) wohl nicht entscheiden kann, da es an nachzuahmenden Mustern fehlt. Ein anderer Faktor ist, ob sich die Beweise automatisch würdigen lassen. Aber auch in rechtlich und tatsächlich weniger anspruchsvollen Fällen kann das Bedürfnis nach einem menschlichen Richter zentral sein. Dies gilt etwa in Fällen mit hoher sittlicher und sozialer Relevanz wie dem Strafrecht. Würde es hier nur auf das Rechtliche ankommen, würde es keine Schöffen geben.

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Es ist absurd, wie viel Jurastudenten und Referendare auswendig lernen müssen. [....] Menschen sind nicht die besseren Datenbanken, und sie sind auch nicht das bessere Tool, um diese Datenbanken zu durchforsten.

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VdZ: Wie sollte sich die juristische Ausbildung angesichts der zunehmenden Automatisierung im Rechtswesen entwickeln? Sollten Studierende sich stärker auf Technologie oder interdisziplinäre Studien fokussieren?

Welter: Ein klares „ja“! Es ist absurd, wie viel Jurastudenten und Referendare auswendig lernen müssen. Wem nützt der Nachweis, dass jemand etwas auswendig gelernt hat, was er auch schnell hätte nachschlagen können? Insbesondere, wenn KI viel schneller als wir Hunderttausende von Veröffentlichungen durchforsten und relevante Textbausteine ausgeben kann. Menschen sind nicht die besseren Datenbanken, und sie sind auch nicht das bessere Tool, um diese Datenbanken zu durchforsten.

Was Menschen jedoch können, ist logisch denken. Sie können Korrelation und Kausalität unterscheiden, Logik anwenden, bekannte Konzepte auf neue Sachverhalte übertragen und damit Analogien bilden. Sie sind es, die erspüren können, was Fairness ist und wie die Gesellschaft, in der sie sich befinden, funktioniert. Sie müssen Streit schlichten und Versöhnung ermöglichen. All das erfordert Fähigkeiten, die über das bloße Wissen hinausgehen.

Deshalb brauchen wir in der juristischen Ausbildung wieder mehr Fokus auf die Methodenlehre, wie es Herr Professor Haferkamp in der JZ gefordert hat:

„Sie [die Juraabsolventen] sind Reproduzenten, keine Produzenten. Zwischen Wissen und Können wird die Grenze zwischen Bot und Juristen verlaufen. Die Kunst der selbstständigen dogmatischen Argumentation wird wichtiger werden. Warum also nicht wieder echte Dogmatik?“ (JZ 21/2021)

Studierende sollten sich intensiv mit Rechtsgeschichte, Rechtstheorie und den grundlegenden Methoden der Gesetzesauslegung befassen. Sie müssen lernen, wie man neue Rechtsfragen beantwortet, Verfassungsgüter gegeneinander abwägt, auf zukünftige Realitäten reagiert und das Ganze in einem sozialen Kontext verankert.

Gleichzeitig müssen Juristinnen und Juristen in der Lage sein, moderne technologische Mittel kompetent und informiert einzusetzen. Das bedeutet, die Risiken und Grenzen dieser Tools zu verstehen. Ein Richter kann einer KI nicht blind vertrauen – er muss deren Ergebnisse kritisch hinterfragen und die KI-Systeme weiterentwickeln können. Andernfalls riskieren wir, dass KI zu einem unkontrollierten Alleinherrscher wird, und nur eine kleine Gruppe von Experten versteht, wie sie funktioniert, und Einfluss darauf nimmt. Das würde die Tür für Manipulation und Korruption weit öffnen.

Deshalb ist es entscheidend, dass wir den Studierenden Digitalkompetenz vermitteln. Diese neue Expertise ist notwendig, um Transparenz zu schaffen, KI kritisch zu hinterfragen und eine faire, gerechte und zukunftsfähige Justiz zu gestalten. Der gemeinnützige recode.law e. V. hat dies schon 2018 erkannt. Als führende Nachwuchsorganisation im Bereich Legal Tech setzt sich der Verein seitdem dafür ein, Legal Tech stärker in die Juristenausbildung einzubeziehen und bietet allen, die sich hierfür begeistern können, ein Netzwerk von Gleichgesinnten.

📅 Paul F. Welter auf dem 3. Digital Justice Summit

25. November 17:50 - 18:45: Plenum I.IV Das besondere Gespräch am frühen Abend

Jura ohne Juristen: Gestaltung von Rechtssystemen auf der grünen Wiese / Law without Lawyers: Designing a Legal System from Scratch

3. Digital Justice Summit -  Deutschlands Justiz gemeinsam moderner machen!

  • 25.–26. November

  • Kongresscenter im Hotel de Rome

Das Digital Justice Summit begleitet den Transformationsprozess aller Institutionen und Akteure im Umfeld der Judikative einschließlich europäischer Entwicklungen. Der Kongress vernetzt also ebenenübergreifend Entscheidungsträger/innen und alle beteiligten Akteure/innen im Umfeld der Justiz bzw. des Justizwesens: die Gerichte der verschiedenen Gerichtsbarkeiten, die Staatsanwaltschaften, den Justizvollzug, die sozialen Dienste der Strafrechtspflege, die Justizverwaltung, das Notariat sowie die Rechtsberatung. Ebenso die Digitalwirtschaft, die Legal Tech-Szene, die Versicherungswirtschaft, Wissenschaft und Forschung sowie die Zivilgesellschaft. Die Veranstaltung schafft eine Plattform für einen gesamtgesellschaftlichen Dialog, um gemeinsam die volle Bandbreite der Themen der Modernisierung und Digitalisierung des Justizsektors zu diskutieren und neue Lösungsansätze zu entwickeln.