Wir drehen den Spieß um
Bad Hersfeld kooperiert mit Logistik-Unternehmen, automatisiert sein Rechnungswesen und macht ernst beim IoT
VdZ: Herr Fehling, Sie haben keinen Chief Digital Officer in Ihrer Verwaltung. Wer koordiniert die vielen digitalen Maßnahmen in Bad Hersfeld?
Fehling: Auch wenn ich den Begriff "CDO" nicht gebrauche, laufen die Fäden bei mir im Rathaus zusammen. Ich habe mir „Digitalisierung“ auch deshalb auf die Fahnen geschrieben, weil ich selbst aus der IT-Branche komme, aus meiner früheren Funktion viele einschlägige Erfahrungen mitbringe und die auch schon hier in der Kommunalverwaltung habe einfließen lassen.
Wir tendieren zur komplett elektronischen Datenübertragung mittels XML-Datensätzen im ZUGFeRD-Standard.
VdZ: Was haben Sie aus der Privatwirtschaft "mitgebracht"?
Fehling: Ich war bis vor sieben Jahren für ein großes US-Unternehmen in Europa dafür zuständig, Unternehmenslösungen für Big Data zu finden. Von Hause aus bin ich Wirtschaftsinformatiker und also auch mit der kaufmännischen Seite vieler Prozesse vertraut. Nach meiner Wahl 2011 habe ich deshalb erst einmal begonnen, die Verwaltungsprozesse hier quasi auf den Kopf zu stellen. Wir haben seit vielen Jahren nun zum Beispiel einen voll digitalisierten Workflow im Rechnungswesen: Die meisten Rechnungen laufen mittlerweile papierlos, über PDF-Dokumente. Auch solche Dokumente, die noch analog bei uns eingehen, werden durch einen externen Dienstleister eingescannt und als PDF in unser System eingepflegt. Das ist ein Zwischenstadium; wir tendieren zur komplett elektronischen Datenübertragung mittels XML-Datensätzen im ZUGFeRD-Standard.
Keine allumfassende Strategie
VdZ: Von der Privatwirtschaft in die Kommunalverwaltung – ein kultureller Schock?
Fehling: Als Stadtverordneter in Hersfeld hatte ich mich schon vorher fünf Jahre mit kommunalen Themen auseinandergesetzt und so eine Idee von Kommunalpolitik bekommen. Ich glaube, ich habe mich mit der Verwaltungsarbeit insofern arrangiert, als ich sowohl Prozesse im Rathaus technisch-organisatorisch modernisiert habe, gleichzeitig aber auch die vielen positiven Aspekte klassischer Verwaltung zu schätzen weiß. Klar definierte Arbeitsteilung, Verlässlichkeit und transparente Entscheidungswege in der Politik gehören zu diesen Eigenschaften, die unbedingt bleiben müssen.
VdZ: Haben Sie einen Masterplan, mit dem Sie Ihre Stadt und Verwaltung fit für das 21. Jahrhundert machen wollen?
Fehling: Vor vier Jahren haben wir verstärkt begonnen, uns mit Infrastrukturen und dann auch mit der Idee von „Smart Cities“ zu befassen. Wir arbeiten derzeit daran, ein Modell für ein IT-Architektur-Modell zu entwerfen. Anders als einige deutsche Großstädte haben wir jedoch nicht mit einer allumfassenden Strategie begonnen und auch nicht gleich ein digitales Leitbild entworfen. Vielmehr arbeiten wir in Hersfeld an konkreten Umsetzungen anhand kleinerer Projekte. Wir sind meines Erachtens bei der Digitalisierung bundesweit auch deshalb an führender Position, weil wir mit rund 30.000 Einwohnern eine exzellente Größe besitzen. Der Entscheidungsweg ist oft kurz, unsere Flexibilität hoch. Wir sind sehr „agil", würde man heute wohl sagen.
Unternehmen, die ihre Lösungen konzipiert haben und nun in der Praxis ausprobieren wollen, sind bei uns herzlich willkommen.
VdZ: Was bedeutet denn die Größe Ihrer Stadt genau?
Fehling: Als Mittelstadt mit Funktionen eines Oberzentrums unterhalten wir in punkto klassisch-kommunaler Infrastruktur vieles entweder zumindest einmal oder wenige Male: Wir haben zum Beispiel eine Bibliothek, ein Museum und drei Schwimmbäder. Kleinere Städte besitzen das oft nicht (mehr). Großstädte hingegen müssen viele Einrichtungen mehrfach oder sogar Dutzende Male aufrechterhalten, haben hohe Unterhaltungskosten und verzetteln sich. Wir zeigen uns bei der Modernisierung zudem offen und pragmatisch. Unternehmen, die ihre Lösungen konzipiert haben und nun in der Praxis ausprobieren wollen, sind bei uns herzlich willkommen. Solche Pilotierungen lassen sich in Bad Hersfeld schnell umsetzen - wir sind ein gut überschaubares „Living Lab“!
VdZ: Zum Beispiel?
Fehling: Etwa bei der Auslieferung von Briefen und Paketen. Wir konnten die Deutsche Post DHL Group dafür gewinnen, ihren Zustell-Roboter erstmals bei uns zu testen. Der Weg zur Umsetzung war allerdings gar nicht so einfach. Denn niemand konnte bis dahin genau definieren, um welche Art „Fahrzeug“ es sich bei so einem PostBot handelt und wer für eine entsprechende Zulassung zuständig war.
VdZ: Eine bürokratische Sackgasse also...
Fehling: Ja, aus der allerdings unser Vorschlag hinausführte, den Roboter einfach als „elektrischen Handkarren mit virtueller Deichsel“ zu definieren. Der Landkreis ließ sich auf diese Idee ein, ich konnte als Bürgermeister dann selbst eine Ausnahmegenehmigung erteilen und wir hatten unser urbanes Testfeld. Jürgen Gerdes, Vorstandsmitglied der Deutschen Post, gefiel dieser Pragmatismus so gut, dass er zur Premiere des „Fahrzeugs“ nach Hersfeld kam und wir eine tolle Pressekonferenz hatten.
VdZ: Sie haben viele große Unternehmen mit Niederlassungen in Ihrem Umfeld. Ein Vorteil?
Fehling: Ja, wir kooperieren mit ganz unterschiedlichen Partnern. Neben DHL planen wir aktuell zusammen mit der Deutschen Bahn Mobilitätsprojekte. Gemeinsam mit Amazon und Continental, die hier in der Nähe große Standorte unterhalten, haben wir sogar ein gemeinsames Konsortium gegründet. Auch mit Siemens arbeiten wir zusammen.
Unsere Idee: ein elektrischer Handkarren mit virtueller Deichsel
VdZ: In der Diskussion rund um Smart Cities, Apps und Sensoren geht es immer wieder um Daten bzw. Datenhoheit. Sie treten dafür ein, dass sich Städte hier stärker engagieren und selbst mehr Daten erfassen sollten. Das kann doch keine kommunale Aufgabe sein!
Fehling: Doch. Wir sollten unsere kommunale Datenhoheit und deren Vermarktung keinesfalls nur Konzernen überlassen, die immer mehr Informationen akquirieren und damit dann gegenüber unseren Einwohnern Geld verdienen. Im Gegenteil: Intelligente Strukturen und das Internet of Things bieten Kommunen heute viele Gelegenheiten, wichtige Daten zu erfassen. Das sollten wir nutzen – im Sinne des Bürgers.
Kommunale Daten nicht Konzernen überlassen – selbst nutzen und Smart Services anbieten!
VdZ: Machen Sie es mal konkret!
Fehling: Hier ein Beispiel: Wie vielerorts gibt es in Hersfeld, Geschwindigkeitsanzeigen, die Autofahrer freiwillig dazu bewegen sollen, sich an die Verkehrsregeln zu halten. Neben dem reinen Tempo können diese auch mit Lautstärke-Sensoren ausgestattet werden. Jedes vorbeifahrende Auto bringt Informationen über Verkehrsaufkommen, Fahrzeugtyp und Emissionsbelastung. Und genau das wollen wir wissen!
Es können nur noch dann vollkommen analoge Dinge eingekauft werden, wenn der Nachweis erbracht ist, dass der Markt keine digitalfähigen Pendants vorhält.
VdZ: Wofür?
Fehling: Um unsere Bürger über die Gegebenheiten vor Ort informieren zu können. Unsere Online-Plattform „Urban Cockpit“ dient schon jetzt Bürgern, Pendlern und Touristen dazu, anhand von Graphiken ganz einfach zu erfahren, welches Parkhaus voll ist und wie hoch die aktuelle Lärm- und Feinstaubbelastung ausfällt. Diese Visualisierung speist sich aus unserer zentralen Datenbasis, an die mittlerweile alle datengebenden Infrastrukturen angeschlossen werden müssen. Nach und nach kommen immer mehr Themenbereiche hinzu. Unser klares Ziel ist es, den Bürger durch Smart Services so gut wie möglich zu informieren.
VdZ: Sie haben dafür auch Ihre städtischen Richtlinien für Vergabe-Entscheidungen angepasst – was ist neu?
Fehling: Ganz einfach: Jede Neubeschaffung bei Wirtschaftsgütern muss darauf geprüft werden, ob sie "IT-fähig" ist. Wir drehen den Spieß also um: Es können nur noch dann vollkommen analoge Dinge eingekauft werden, wenn der Nachweis erbracht ist, dass der Markt keine digitalfähigen Pendants vorhält. Wir machen ernst beim Internet of Things!