Nachhaltige beschaffung
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Wie Kommunen nachhaltige Vergabekriterien besser umsetzen können

Nachhaltigkeit in der öffentlichen Beschaffung

Nachhaltige Beschaffung spielt eine immer größere Rolle im öffentlichen Vergabewesen, bleibt jedoch oft hinter seinen Möglichkeiten zurück. Die Gründe dafür sind vielfältig, doch es gibt auch Lösungsansätze, um den Weg für eine nachhaltigere Beschaffungspraxis zu ebnen. In diesem Interview sprechen Herr Wolinda von der Bertelsmann Stiftung sowie Frau Beneke und Frau Lührs vom Bundesministerium des Innern (BMI) über den aktuellen Stand der nachhaltigen Beschaffung.

Verwaltung der Zukunft: Herr Wolinda, Frau Beneke und Frau Lührs, können Sie kurz umreißen, wie der Stand der Nachhaltigkeit in der Beschaffung aktuell aussieht: Welche Gesetzesgrundlage ist essenziell und wo bestehen die größten Schwierigkeiten?

Marc Wolinda: Hierzu haben wir im Juli gemeinsam mit der Universität der Bundeswehr München eine Studie veröffentlicht. Das Ergebnis ist, dass zuletzt in den deutschen Kommunen nur knapp 11 Prozent der Ausschreibungen mit Nachhaltigkeitskriterien durchgeführt wurden. Damit bleibt das öffentliche Beschaffungswesen weit hinter seinen Möglichkeiten und den politischen Zielen zurück. Dabei bieten die Gesetze seit zehn Jahren den Spielraum an, Nachhaltigkeitskriterien bei der Vergabeentscheidung einzubeziehen. Im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) ist in § 127 geregelt, dass das wirtschaftlichste Angebot den Zuschlag erhalten muss und zur Ermittlung der Wirtschaftlichkeit können u. a. auch Nachhaltigkeitskriterien herangezogen werden. Wir sprechen bei diesem Befund vom „Intention-Action-Gap“. Die größten Hürden für den Einbezug von Nachhaltigkeit im Beschaffungsprozess liegen in fehlenden Nachhaltigkeitskompetenzen bei den Beschafferinnen und Beschaffern sowie in einer mangelnden strategischen Einordnung des Beschaffungswesens in den Verwaltungsstrukturen. Besonders Sorge bereitet mir, dass die Anzahl der anhand von Nachhaltigkeitskriterien durchgeführten Vergaben in den letzten zehn Jahren um über 40 Prozent zurückgegangen ist.

Ilse Beneke & Anita Lührs: Aus rechtlicher Sicht ist es von zentraler Bedeutung, dass soziale und umweltbezogene Aspekte bereits in den Grundsätzen der Vergabe verankert sind (§ 97 GWB, § 2 UVgO).

Je nach Organisation und konkretem Leistungsgegenstand ist es wichtig, zu beachten, was darüber hinaus relevante Regelungen sind, z.B. Ländervorgaben oder produktbezogene Regelungen. Für Bundesbehörden stellen beispielsweise das Maßnahmenprogramm Nachhaltigkeit der Bundesregierung[1] und die AVV Klima[2] wichtige Vorgaben dar.

Die Umsetzung der jeweiligen Regelungen und die Abwägungen im Einzelfall sind in der Praxis sicherlich eine Herausforderung. Die Rückmeldungen von Vergabestellen zeigen insofern, dass über die Zeit das Erfahrungswissen insgesamt zunimmt. Eine Herausforderung in der Praxis bleibt aber die zunehmende Komplexität von öffentlichen Vergabeverfahren insgesamt: Von der Bedarfsfeststellung bis zum Erhalt des Produktes muss einiges beachtet werden, Nachhaltigkeitsaspekte sind hier nur ein Teilbereich.

VdZ: Welche Maßnahmen erachten Sie als am wirkungsvollsten, um das Bewusstsein für nachhaltige Beschaffung bei öffentlichen Auftraggebern zu erhöhen?

Wolinda: Wir wollten mit unserer Studie nicht nur die Herausforderungen beschreiben, sondern auch Lösungsansätze zur Verbesserung der Situation aufzeigen. Deshalb hatten wir im Entstehungsprozess neben einer umfassenden Auswertung der Fachliteratur auch einen Präsenzworkshop mit Praktikerinnen und Praktikern aus ganz Deutschland durchgeführt. Ein Ergebnis war, dass das Bewusstsein für Nachhaltigkeit bei den Beschafferinnen und Beschaffern häufig höher ist, als es die Statistiken vermuten lassen. Aber die eben genannten und weitere Defizite hemmen die Umsetzung einer nachhaltigen Vergabepraxis. Wichtig wäre daher, dass die Kommunalpolitikerinnen und -politiker und die Verwaltungsvorstände ein stärkeres Bewusstsein für dieses wichtige Thema entwickeln würden und dann die Voraussetzungen auf der operativen Ebene schafften. Die Studie nennt als konkrete Lösungsansätze neben der naheliegenden Fortbildung des entsprechenden Verwaltungspersonals auch die Installation eines Public Chief Procurement Officers (P-CPO) in größeren Kommunen, der oder die das Thema verantwortet und strategisch weiterentwickelt. Durch die Aufwertung des Themas würde mit hoher Wahrscheinlichkeit auch mittelfristig das Bewusstsein für eine nachhaltige öffentliche Beschaffung auf allen Ebenen steigen.

Beneke & Lührs: Als KNB merken wir in unserer Arbeit, dass das Bewusstsein für nachhaltige öffentliche Beschaffung in den letzten Jahren grundsätzlich zugenommen hat. Die Rückmeldungen der Beschaffungsstellen zeigen aber, dass die Herausforderung auch in den strukturellen Bereichen für die praktische Umsetzung liegen. Auch aus diesem Grund bieten wir dieses Forum an, um Strukturen und Lösungsansätze miteinander zu teilen. Hier gilt es, ganz grundsätzlich dran zu bleiben und Nachhaltigkeitsaspekte weiter in den Fokus zu rücken, seien es Ressourcen für Personal und Projekte oder die Berücksichtigung bei neuen Regelungen, damit Nachhaltigkeit integriert und nicht losgelöst bzw. konkurrierend bearbeitet wird. Insbesondere bei neuen Regelungen erreichen uns im Nachgang vermehrt Anfragen zur genauen Umsetzbarkeit und Berücksichtigung im Vergabeverfahren, ebenso wie zur Überprüfung und zum Monitoring

Zudem tut es an der einen oder andere Stelle auch gut, sich in Erinnerung zu rufen, worum es im Kern geht – und zwar um positive Auswirkungen auf Menschen und Umwelt oder zumindest die Verminderung von negativen Auswirkungen. Die Effekte sind oft in der unmittelbaren Umgebung und auch kurzfristig bemerkbar, beispielsweise bei geringeren Schadstoffwerten, weniger Abfall oder dem Abbau von Barrieren.

Nimmt man diese mittel- und langfristigen Folgen eines nicht nachhaltigen öffentlichen Einkaufs mit in den Blick, so erhält man auch eine andere Perspektive auf die zunächst oft höher scheinenden Kosten eines nachhaltigen Einkaufs. Für eine Schärfung des Bewusstseins für Nachhaltigkeit brauchen wir daher insbesondere auch diesen erweiterten Blick, der den Lebenszyklus von Produkten mitberücksichtigt.

VdZ: Haben Sie 2 konkrete Tipps, wie kleinere Unternehmen und öffentliche Stellen sich aktiv informieren können und nachhaltige Beschaffungsprozesse leichter umsetzen können?

Wolinda: Für Start-ups und KMU bietet die KOINNO – also das Kompetenzzentrum Innovative Beschaffung – kostenfreie Beratungsangebote an. Zudem gibt es auch auf der Länderebene erste Angebote für Kommunen, beispielsweise das Kompetenzzentrum für nachhaltige Beschaffung und Vergabe Schleswig-Holstein. Darüber hinaus sollten Kommunen den Austausch untereinander suchen und regionale Netzwerke schaffen. Wenn eine Kommune A beispielsweise erfolgreich eine nachhaltige Vergabe einer Reinigungsdienstleistung durchgeführt hat, macht es doch nur Sinn, dass die Nachbarkommune B mit demselben Bedarf nicht bei Null anfängt, sondern von den vorhandenen Erfahrungen der Kommune A profitiert. Letztlich sollte das Ziel sein, über die Sammlung von guten Praxisbeispielen zu einer Standardisierung für den Einbezug von Nachhaltigkeitskriterien bei der Vergabe zu kommen, um die Hemmschwelle zu deren Nutzung deutlich nach unten zu schreiben. Die häufig vorhandene Befürchtung in kommunalen Vergabestellen, sich mit der Nutzung von Nachhaltigkeitskriterien auf vergaberechtlich dünnes Eis zu begeben, wäre damit obsolet.

Lührs & Beneke: Öffentliche Auftraggeber können sich jederzeit an die KNB wenden. Wir helfen gerne weiter bei Fragen aller Art rund um die nachhaltige öffentliche Beschaffung. Möglicherweise hilft bereits ein Blick auf die KNB-Webseite (www.nachhaltige-beschaffung.info). Wir bieten auch einen Newsletter an.

Wenn es um konkrete Fragen geht, von denen uns als KNB bekannt ist, dass dazu bereits gearbeitet wurde, dann stellen wir auch gerne den Kontakt her. Unternehmen können sich wiederum an die zuständigen Auftragsberatungsstellen wenden. Diese haben eine besondere Expertise dahingehend zu unterstützen, worauf es bei der Teilnahme an öffentlichen Vergaben ankommt.

Daneben gibt es viele weitere Informations- und Hilfsangebote der Bundesregierung, wie den Kompass Nachhaltigkeit, den Informationsdienst für umweltfreundliche Beschaffung des Umweltbundesamtes und die Fachagentur für nachwachsende Rohstoffe, um nur einige zu nennen.

VdZ: Frau Lührs, was sind die größten Erfolge des Interministeriellen Ausschusses für nachhaltige öffentliche Beschaffung (IMA nöB) seit seiner Gründung? 

Lührs: Unser größter Erfolg ist, dass es uns in den letzten zwei Jahren mit dem IMA nöB gelungen ist, für die Bundesverwaltung eine effektive Struktur zu etablieren, um in vertrauensvoller Zusammenarbeit die öffentliche Beschaffung nachhaltiger zu gestalten. Dabei haben wir sichergestellt, dass die zu erarbeitenden Lösungen praxisnah gestaltet werden können und alle Ressorts sich aktiv einbringen. Die Grundlage für eine Gestaltung gemeinsamer Standards in der nachhaltigen öffentlichen Beschaffung ist damit auf Bundesebene gelegt.

Strukturiert haben wir die Arbeit zum einen durch regelmäßige Sitzungen des IMA nöB, in denen wir den Ist-Zustand in der nachhaltigen öffentlichen Beschaffung eruieren. Dazu sehen wir uns die existenten Strukturen und Arbeitseinheiten auf Bundesebene an, evaluieren bestehende Strategien und stellen uns gegenseitig die Beschaffungspraxis in den einzelnen Häusern vor. So bekommen wir einen guten Überblick, nehmen alle mit und stellen sicher, dass wir in unserer Arbeit effektiv auf dem aufbauen, was von Einzelnen bereits geleistet wurde. Ein weiterer wichtiger Schritt war der Aufbau von Unterarbeitsgruppen, in denen gemeinsam für einzelne Teilbereiche konzentriert Standards und Praxishilfen erarbeitet werden.

Selbstverständlich haben wir dabei auch unsere gesamtstaatliche Verantwortung nicht aus den Augen verloren. Ziel des IMA nöB ist es, gemeinsam mit Ländern, Kommunen und der Zivilgesellschaft dafür zu sorgen, die Standards in der nachhaltigen öffentlichen Beschaffung nicht nur für den Bund, sondern bundesweit zu vereinheitlichen. Mit Blick auf dieses Ziel haben wir angefangen, ein Netzwerk mit Experten und Expertinnen aus Bund, Ländern, Kommunen und der Zivilgesellschaft aufzubauen, um gemeinsam auf Augenhöhe möglichst einheitliche Standards zu etablieren.

VdZ: Der IMA nöB hat nun eine Grundlage zur Dokumentation von Nachhaltigkeitskriterien im Beschaffungsverfahren erstellt. Was war der Anlass dafür und was wird mit dieser Grundlage erreicht? 

Lührs: Eines unserer wichtigsten Ziele im IMA nöB ist es, die Nachhaltigkeit in der öffentlichen Beschaffung zu vereinheitlichen. Dazu wurde im IMA nöB eine Unterarbeitsgruppe UAG Dokumentation mit dem Auftrag gegründet, eine entsprechende Dokumentationsgrundlage zu erarbeiten. Arbeitsergebnis der UAG Dokumentation ist die erwähnte Musterdokumentation zu Nachhaltigkeitskriterien im Beschaffungsverfahren inklusive eines Informationsblattes. Sie enthält alle wichtigen rechtlichen und strategischen Vorgaben, die für die nachhaltige öffentliche Beschaffung relevant sind. Die Dokumentation ist als eine Art Hilfestellung bzw. Checkliste für die Beachtung von Nachhaltigkeitskriterien im Beschaffungsprozess zu verstehen. Das Dokumentationsmuster kann in den einzelnen Behörden den individuellen Bedürfnissen entsprechend angepasst werden. Auf Nachfrage wird es durch die Geschäftsstelle des IMA nöB gerne auch an Länder und Kommunen weitergegeben.

VdZ: Frau Beneke, Sie stellen den Projektbericht „Umsetzbarkeit von Nachhaltigkeitskriterien im DL-Bereich bei öffentlichen Aufträgen” vor. Worum geht es hierbei?

Beneke: Als KNB erreichen uns durch verschiedene Formate (bspw. Schulungen, Vorträge, Workshops, Netzwerkveranstaltungen) und von allen Ebenen Anfragen zur Implikation von Nachhaltigkeitskriterien bei Vergaben von Dienstleistungen. Dabei ist das Detailniveau sehr unterschiedlich, von grundsätzlichen ersten Überlegungen bis hin zu sehr spezifischen Anfragen zur Einbringbarkeit von Nachhaltigkeit in konkreten Stufen des Vergabeverfahrens.

Um diesem Informationsbedarf aller Zielgruppen gerecht zu werden und die Informationen gebündelt und transparenter darzustellen, haben wir diesen Projektbericht ausgeschrieben. Ziel ist es, die vergaberechtlichen Grundlagen für DL-Vergaben zusammen zu stellen. Dabei werden u.a. konkrete Einschätzungen für die Einbringbarkeit von Nachhaltigkeitskriterien auf vergaberechtlicher Basis für die einzelnen Stufen im Vergabeverfahren verdeutlicht.

Zum anderen werden ergänzend Nachhaltigkeitskriterien hinsichtlich ihres Stands zur Umsetzbarkeit in ausgewählten Branchen beleuchtet. Die betrachteten Branchen sind Transport- und Kurier-DL sowie IT-Weiterbildungs-DL. Hierzu wurden Interviews und Umfragen (nicht repräsentativ) geführt. Anhand dessen werden, bezogen auf einzelne Prozessbausteine einer DL, konkrete praxisbezogene Handlungshilfen erarbeitet, die auch auf andere Branchen und DL-Arten angewandt werden können.

Im Projektbericht geht dies u.a. mit Checklisten zu einzelnen Nachhaltigkeitskriterien einher, die übersichtlich Beispiele zu Formulierungen und mögliche Bewertungsmatrizen sowie einzelne wichtige Faktoren bei der Einbringung ebendieser Nachhaltigkeitskriterien in das Vergabeverfahren einordnen.