CIO Dr. Martin Hagen: „Bei der Digitalisierung der Verwaltung wird oftmals nur die technologische Dimension betrachtet“
Bremens Staatsrat für Digitalisierung plädiert dafür, dass Verwaltungsmitarbeitende reflektiert mit Daten umgehen können sollten
Verwaltung der Zukunft: Das Digitalisierungsbüro Bremen initiiert und koordiniert die OZG-Projekte und viele weitere Digitalisierungsvorhaben. Was sind Ihre Leuchtturmprojekte und wie weit sind diese vorangeschritten?
Dr. Martin Hagen: Die Freie Hansestadt Bremen ist im Rahmen der OZG-Umsetzung für das Themenfeld Familie & Kind federführend verantwortlich. Unter dem Motto „Mehr Zeit für Familien“ entwickeln wir digitale Verwaltungsleistungen, die das Leben und den Alltag von Familien vereinfachen – zum Beispiel bei einer gewünschten Schwangerschaft, bei der Geburt oder Adoption eines Kindes, im Kontext der Eheschließung oder im Bereich von Vaterschaft, Unterhalt und Sorgeerklärung.
Eines unserer Leuchtturmprojekte ist „Unterhaltsvorschuss Online“. Der Online-Dienst wurde von uns gemeinsam mit der Freien und Hansestadt Hamburg sowie dem Land Nordrhein-Westfalen entwickelt. „Unterhaltsvorschuss Online“ ist eine der ersten Leistungen, die erfolgreich nach dem „Einer für Alle“-Prinzip umgesetzt wird. Bereits hunderte Anträge sind seit dem Go-Live digital eingegangen. Derzeit ist der Dienst in vier deutschen Kommunen verfügbar, die Anbindung von rund 20 weiteren Kommunen wird derzeit vorbereitet. Nach der Pilotphase wird der Dienst zukünftig allen interessierten Ländern und Kommunen zur Verfügung stehen.
Besonders hervorheben möchte ich auch unser Leuchtturmprojekt „Einfach Leistungen für Eltern“, kurz ELFE. Mit diesem Online-Tool können frisch gebackene Eltern zukünftig ihre Eltern- und Kindergeldanträge digital und medienbruchfrei einreichen. Medienbruchfrei heißt in diesem Fall, dass die Kommunikation zwischen Verwaltung und Bürger*innen – von der Antragstellung bis zur Genehmigung der Leistung – elektronisch erfolgt und die Informationen nicht mehr manuell übertragen werden müssen. Mit wenigen Klicks entfallen zeitintensive Behördengänge. Bremen macht mit ELFE einen konkreten und wichtigen Schritt hin zu einer digitalisierten und an den Bürger*innen orientierten Verwaltung – und wird somit dabei helfen, den technologiegetriebenen Kulturwandel in der öffentlichen Verwaltung anzustoßen. Dabei wird zukünftig – ganz im Sinne des Onlinezugangsgesetzes – aus Sicht der Bürger*innen gedacht und nicht nur aus Sicht der jeweiligen Verwaltungsbehörden.
VdZ: Worin besteht die Pionierleistung von ELFE ganz konkret?
Dr. Hagen: ELFE ist ein wesentlicher Meilenstein in der Digitalisierung von Familienleistungen und generell von einkommensbasierten Verwaltungsleistungen. Wir legen mit ELFE den Grundstein für die Verknüpfung von Online-Anträgen mit dem automatisierten Datenaustausch zwischen Privatwirtschaft und Behörden nach dem Once-Only-Prinzip. In Zukunft können viele Leistungen mit Hilfe dieses Verfahrens einfacher und schneller bearbeitet werden. Das Prinzip wollen wir auch auf weitere Leistungen übertragen und weiterentwickeln – beispielsweise auf die geplante Kindergrundsicherung.
VdZ: Sie und Ihr Team beschäftigen sich auch mit den Aufgabenprofilen des IT-Fachpersonals sowie der Nachwuchsgewinnung und Qualifizierung von Mitarbeiter*innen. Wo liegen aus Ihrer Sicht die Herausforderungen?
Dr. Hagen: Mit dem Onlinezugangsgesetz wird ein wichtiger Meilenstein für die Digitalisierung der deutschen Verwaltung gelegt. Doch mit der Entgegennahme digitaler Anträge von Bürger*innen und Unternehmen, das heißt einer Digitalisierung „vor der Haustür“, ist es nicht getan. Es ist wichtig, den gesamten Prozess zu betrachten und ihn konsequent zu digitalisieren, um das vollständige Potenzial auszuschöpfen. Nur so gelingt eine echte digitale Transformation. Bei der Digitalisierung der Verwaltung wird oftmals nur die technologische Dimension betrachtet. Das ist jedoch falsch, denn Digitalisierung soll nicht nur von IT-Fachpersonal übernommen werden. Sie muss von sämtlichen Beschäftigten aller Fachrichtungen und Aufgabenbereiche gemeistert werden! Jede*r Beschäftigte muss die automatisiert getroffenen Verwaltungsentscheidungen erklären und mit Daten reflektiert umgehen. Dies erfordert auch einen souveränen Umgang mit Unsicherheiten und komplexen Entscheidungen, wie uns die Corona-Krise gerade deutlich zeigt. Daraus ergeben sich Fragen für die Entwicklung von Kompetenzen. Wie gehen wir mit sich verändernden Tätigkeiten um? Auf welche Kompetenzen und Qualifikation wird es zukünftig verstärkt ankommen?
VdZ: Wie werden die Fragen zur Kompetenzentwicklung angegangen?
Dr. Hagen: Der IT-Planungsrat hat im Juni 2019 das Forschungs-, Entwicklungs- und Umsetzungsprojekt für die Qualifizierung des digitalisierten öffentlichen Sektors „Qualifica Digitalis“ eingesetzt. Gemeinsam mit wissenschaftlichen Partner*innen werden unter Federführung der Freien Hansestadt Bremen im Kooperationsprojekt geeignete und praxisnahe Lösungen für die zukünftige Qualifizierung entwickelt. Ziel ist es Strategien und Empfehlungen für die Ausgestaltung der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie der Personalentwicklung für verschiedene Funktionsebenen und Tätigkeitsfelder zu erarbeiten.
VdZ: Was sollte speziell in Hinblick auf die Nachwuchsgewinnung beachtet werden?
Dr. Hagen: Ein ganzheitliches Personalmanagement setzt bereits in der Ausbildung der Nachwuchskräfte an. Zum einen benötigen wir eine moderne, an die digitalisierte Verwaltung angepasste Ausbildung, zum anderen müssen die Ausbildungsberufe für die Tätigkeiten im öffentlichen Dienst selbst attraktiv bleiben. Außerdem bedeutet Qualifizierung heute angesichts der geringen Halbwertszeit von Wissen sowie sich ständig wandelnden Arbeitsumgebungen vor allem lebenslanges Lernen.
VdZ: Haben sich durch das wiederholte und phasenweise lange Arbeiten im Homeoffice die Anforderungen an Führungskräfte und Mitarbeiter*innen verschoben? In welche Richtung?
Dr. Hagen: Durch die Pandemie wurde die Arbeit von heute auf morgen in das Home-Office verlagert. Natürlich gab es Home-Office schon vorher. Aber die teilweise wochenlange Arbeit von zu Hause war so dann neu für uns. Damit haben sich die Anforderungen verändert. Teilweise noch analoge Arbeitsprozesse, die Kommunikation und die Arbeitsabläufe mussten neu organisiert werden. Ein virtuelles Arbeiten in diesem Ausmaß waren ein Großteil der Führungskräfte und Mitarbeitenden nicht gewohnt. Sie haben es trotz alledem mit viel Bereitschaft zur Veränderung und Durchhaltevermögen gemeistert. Aus heutiger Perspektive kann ich sagen, dass die Entwicklung insgesamt positiv ist und sich nun schrittweise die Arbeitskultur verändert.
VdZ: Was hat sich konkret verändert?
Dr. Hagen: Eine Umstellung auf die nahezu vollständig hybride Zusammenarbeit benötigt entsprechende technische Rahmenbedingungen. Kollaboratives, virtuelles Arbeiten wurde plötzlich zum Schlüssel, um den Dienstbetrieb aufrecht zu halten. Es war essentiell, Video-Konferenzsysteme wie dOnlineZusammenarbeit/Jitsi sowie Kommunikationssoftware zum Chatten und Telefonieren bereitzustellen. Wir sind sehr glücklich über die schnelle Implementierung durch unseren IT-Dienstleister Dataport. Diese Tools haben in sehr kurzer Zeit eine enorme Akzeptanz in der Verwaltung erfahren. Dies gilt im Übrigen auch für weitere Herausforderungen beim Arbeiten von zu Hause, zum Beispiel bei gleichzeitigem Home-Schooling oder der Kinderbetreuung. Hier hat vor allem das Verständnis unter den Kolleg*innen erheblich zugenommen. Für die Mitarbeitenden bedeutet die Arbeit von zu Hause eine sehr viel größere Flexibilität sowie freiere Zeiteinteilung. Sie leistet damit aus meiner Sicht einen positiven Beitrag zur Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf. Aber natürlich gibt es auch Schattenseiten des Home-Office. Es ersetzt nicht in dem Umfang das gewohnte kollegiale Miteinander, da die persönlichen Kontakte und das kurze Gespräch wegfallen. Hier gilt es zukünftig eine ausgewogene Balance zu finden, die ein gutes kollegiales Miteinander und gleichzeitig ein weitgehend ortflexibles Arbeiten ermöglicht.
VdZ: Welche Erfahrungen haben Führungskräfte mit Home-Office gemacht?
Dr. Hagen: Auch für die Führungskräfte haben sich durch das Arbeiten im Home-Office-Anforderungen verschoben. Führen bedeutet derzeit vor allem Führen auf Distanz, was mit einem größeren Vertrauen in die Mitarbeitenden einhergeht und bisher in den wenigsten Bereichen erprobt war. Nach meinen Erfahrungen wirkt sich dies jedoch grundsätzlich positiv auf die Arbeitskultur aus. Die Produktivität ist dabei nicht zurückgegangen, stattdessen ist in vielen Bereichen, vor allem bei der überregionalen Zusammenarbeit, die Effizienz deutlich gestiegen. Insgesamt gilt es, die positiven Entwicklungen zu bewahren und aus den aktuellen Erfahrungen für die Arbeit der Zukunft zu lernen und damit einhergehend auch zielgerichtet in diesem Bereich zu investieren und neue Formen der Zusammenarbeit dauerhaft zu implementieren. Das werden wir auch für die bremische Verwaltung angehen.
VdZ: Bremen nutzt wie andere Bundesländer auch die Plattform ePayBL, über die eine elektronische Bezahlung von Verwaltungsleistungen möglich ist. Wie wird die Bezahlmöglichkeit von den Bürger*innen angenommen?
Dr. Hagen: Aktuell bietet die Freie Hansestadt Bremen eine elektronische Bezahlung für Auszüge aus dem Liegenschaftskataster sowie für Leistungen im Bereich der An- und Abmeldung von Kraftfahrzeugen an. Die elektronische Bezahlung für Auszüge aus dem Liegenschaftskataster wird von den Bürger*innen sehr gut angenommen. Insgesamt werden rund 15 Prozent der Gesamtverkäufe beim Landesamt GeoInformation Bremen online abgewickelt und entlasten im volldigitalisierten Prozess die Verwaltung erheblich. Dagegen sind die Fallzahlen im Bereich der An- und Abmeldung von Kraftfahrzeugen weniger hoch. Weitere Anbindungen an ePayBL werden zurzeit im Bereich des Gewerbegründungsassistenten, bei der Zahlung von Ordnungswidrigkeiten mittels QR-Code und beim Führerscheinantrag umgesetzt.
VdZ: Welche weiteren elektronischen Bezahlmöglichkeiten sind in Zukunft denkbar?
Dr. Hagen: Wir gestalten gerade die automatisierten Prozesse grundlegend neu. Dann können diese auf weitere Verwaltungsleistungen ausgerollt werden. PayPal, SEPA-Lastschrift und Vorkasse sind hier ein Thema. Ebenso vorstellbar ist eine technische Abwicklung von Zahlungen, die nicht direkt bei Antragstellung entrichtet werden können. Hier wird eine Möglichkeit über die Online-Service-Infrastruktur von Dataport entwickelt. Die Antragstellung soll in diesen Fällen online durchgeführt werden. Die Nutzer*innen erhalten nach der Bearbeitung und Gebührenfestsetzung durch die Behörde eine Nachricht mit dem Gebührenbescheid. Die Zahlung kann dann direkt nach Abruf des Gebührenbescheides online via ePayment durchgeführt werden.