Vernetzte Strukturen statt Schaufensterdigitalisierung
Bianca Kastl im Interview zu den Herausforderungen der Digitalisierung
Verwaltung der Zukunft: In Ihrer Kolumne "Degitalisierung" sprechen Sie sehr offen und kritisch über das Scheitern des OZGs. Es gab viele, schon häufig diskutierte, Fehler in der Vergangenheit. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein – wo liegen die Hauptprobleme? Oder sind Sie optimistisch?
Bianca Kastl: Üblicherweise wird beim Scheitern des OZG das Argument der Schaufensterdigitalisierung vorgebracht. Das kratzt aber nur an der Oberfläche des Problems. Digitalisierung braucht, um gut zu werden, neu vernetzte Strukturen, die es im politischen Handeln oftmals wegen starrer Ressort- bzw. Themenfeldaufteilung oder kommunaler bis föderaler Abgrenzung untereinander eigentlich gar nicht geben kann.
Üblicherweise wird beim Scheitern des OZG das Argument der Schaufensterdigitalisierung vorgebracht. Das kratzt aber nur an der Oberfläche des Problems.
So haben wir die Situation, dass Digitalisierung in Deutschland Stückwerk aus einzelnen Leistungen in einzelnen Kommunen oder Ländern bleibt und hinten und vorne nicht zusammenpasst.
Speziell im OZG 2.0 wurde dieses Problem zumindest ansatzweise erkannt und die Schaffung und verbindliche Nutzung von Basiskomponenten sowie die Entwicklung offener und verbindlicher Standards vorangetrieben. Das geht in die richtige Richtung und stimmt mich etwas optimistisch.
Allerdings sind Basiskomponenten und Standards nur ein Anfang. Technisch gesehen haben wir die Situation, dass wir neben den Basiskomponenten dann eine Vielzahl unterschiedlicher technischer Lösungen für gleichartige darauf aufbauende Probleme haben, seien es Formularserver, Workflowengines oder sonstiges. Diese Synergien zu erkennen, ist aber erst durch eine Themenfeld-übergreifende, interdisziplinäre Sicht auf eGovernment als Plattform möglich. Ich würde sogar sagen, dass wir den Blick da auch in Richtung Gesundheitswesen, Justiz und anderer Ressorts weiten müssen. Denn letztendlich versuchen wir in Deutschland viele sehr gleiche digitale Probleme an verschiedenen Ecken mehrfach in mehr oder weniger guter Qualität zu lösen – ohne dadurch irgendwelche Vorteile in Wartung, Pflege, Resilienz und Betrieb zu realisieren, ganz im Gegenteil.
VdZ: Sie beschreiben zudem, dass der Digitalstrategie in Deutschland ein Zielbild fehlt- also eine gesamteinheitliche Vorstellung, was die Digitalisierung überhaupt bringen soll. Welche Aspekte sollte diese Strategie beinhalten und bei wem würde es liegen, eine solche Strategie zu erarbeiten – und die Message auch allen Beteiligten bewusst zu machen?
Eine Digitalstrategie für ein Land wie Deutschland liegt nicht nur an einer Stelle, sie liegt bei allen gleichzeitig gemeinsam.
Kastl: Das Problem beginnt schon bei „Bei wem soll das liegen“. Eine Digitalstrategie für ein Land wie Deutschland liegt nicht nur an einer Stelle, sie liegt bei allen gleichzeitig gemeinsam. Das müssen sich alle Beteiligten erst einmal verinnerlichen: Digitalisierung ist nichts, was ich jemand anderen für mich machen lassen kann. Die Message ist glaube ich aber politisch nicht angekommen: Oftmals geht es darum, wer jetzt im Vergleich zu einem Ministerium einer anderen Partei mehr „Digital“ im Namen und Handeln seines Ministeriums hat – ohne aber basale Probleme zu lösen, die wenig Ruhm einbringen.
Zu einem positiven Zielbild in Form einer Strategie muss ich selbst beitragen und entsprechende Gestaltungsfreiräume einfordern und nutzen. Das Zielbild kann von Details heraus formuliert werden oder von größeren Visionen aus. Ein größeres, wenn auch ambitioniertes Zielbild wäre so etwas wie: „Kein digitaler Verwaltungsvorgang in Deutschland soll länger als fünf Minuten dauern“ oder „Die Verwaltung soll mit Verwaltungsleistungen immer proaktiv auf die Bürger*in oder Unternehmen zugehen“.
Aus diesen großen und ambitionierten Zielbildern lassen sich dann aber auch relativ klar Schritte ableiten, die zur Umsetzung solcher Zielbilder notwendig sind. Das beinhaltet dann Aspekte wie technische und rechtliche Rahmenbedingungen, man wird aber auch sehr schnell feststellen, dass es Verbindlichkeiten in der Umsetzung sowie übergreifende Budgets braucht. Eben auch interdisziplinär gedacht, nicht nur einer Stelle.
VdZ: Die umzusetzenden OZG-Leistungen sind oftmals nur in einer Kommune digital vorhanden. Woran liegt es Ihrer Meinung nach rein aus technologischer Sicht, dass das Einer-für-Alle-Prinzip oftmals nicht geschafft wird?
Kastl: Das Einer-für-alle-Prinzip führt in der Realität zu Jedes-Themenfeld-andere-Technik. Eine durchschnittliche Kommune wird, wenn sie aus dem Katalog von EfA-Leistungen voll bedient, implizit mehrere unterschiedliche Verwaltungsverfahren-Baukästen nutzen, alle mit noch mal eigenen Marktplätzen, sei es jetzt EFAST, Civento, NAVO oder wie sie alle heißen. Diese Baukästen sind dann aber wiederum Basis der EfA-Leistungen, alle bringen aber oftmals eigene Komponenten für Userverwaltung, Anbindung an Basisdienste etc. mit. Am Ende hätten Kommunen technischen Aufwand zur Einrichtung und Einbindung mal 14 – mindestens.
Das gibt keine Synergien und ist nicht handhabbar für alle; das gibt einen Anwendungszoo.
VdZ: Wo liegen die organisatorischen Probleme hierbei?
Kastl: Aus Sicht der Kommunen muss sich eine Kommune mit x verschiedenen organisatorischen Welten auseinander setzen, von denen man abhängig ist. Die eine EfA-Leistung hat Servicezeiten ab 07:30, die andere ab 9. Die eine hat eine Verfügbarkeit von 95 %, die andere von 98 %. Wenn mal was hakt, müsste eine Kommune schon sehr genau nachlesen, wie denn das jetzt bei einer Leistung vertraglich genau sein darf. Dazu kommt der Aufwand der unterschiedlichen Konfiguration und Einbindung und das bei x verschiedenen Leistungen.
Eigentlich müsste man sich auf einer anderen Ebene technisch einigen: Identische Betriebsumgebung, aber föderal verteilt. Identische Basisplattform, aber föderal betrieben und darauf aufbauend mit unterschiedlichen Fachverfahren versorgt. Nur ist fraglich, ob der politische Konsens dazu mit den Herstellern und unter unterschiedlichen politischen Befindlichkeiten zu erreichen ist.
VdZ: Sie betonen in Ihrer Kolumne und in Interviews, dass digitale Lösungen auch Gefahren oder Benachteiligungen bestimmter Personengruppen mit sich bringen (vor allem wenn schlecht gemacht). Können Sie Beispiele dafür nennen? Und wie können Benachteiligungen präventiv unterbunden werden bei der Digitalisierung?
Kastl: Ein einfaches Beispiel sind etwa Auskunfts- oder Meldesperren. Manche Verfahren, wie etwa im elektronischen Rechtsverkehr, geben oftmals leichtfertig sensible Daten von Personen digital preis, die eigentlich besonders geschützt werden müssen, weil sie diesen Umstand gar nicht berücksichtigen, oder weil der richtige Schutz dieser Informationen „zu komplex“ sei. Die Sperren dieser Daten sollen aber Menschen vor Nachstellung oder Bedrohung schützen, was dann durch schlechte digitale Lösungen mehr möglich ist.
Was ich in der Umsetzung von digitalen Lösungen immmer feststelle, dass viele in der Umsetzung oftmals davon ausgehen, dass es die Standardpersonen gäbe, die digitale Lösungen nutzen. Das sind aber oftmals idealtypische Vorstellungen von Menschen, die bereitwillig „Daten teilen“, die keine Benachteiligung oder Stigmatisierung erfahren, die digitalaffin sind und so weiter.
Wir tun gut daran, digitale Systeme nicht aus Sicht der Mehrheit zu denken, sondern aus Sicht derer, die von solchen Systemen diskriminiert werden könnten.
Die Realität ist aber weitaus vielfältiger und hat ganz unterschiedliche Anforderungen an den Umgang mit digitalen Lösungen. Dabei wäre ein Perspektivwechsel besser: Wir tun gut daran, digitale Systeme nicht aus Sicht der Mehrheit zu denken, sondern aus Sicht derer, die von solchen Systemen diskriminiert werden könnten. Das schafft gute digitale Lösungen für alle und ermöglicht allen digitale Teilhabe. Erst dann kann Digitalisierung zu einem Vorteil für alle Teile der Gesellschaft werden.