Offener Brief an Robert Habeck
© Flickr / Stephan Röhl, CC BY SA 4.0

Ein offener Brief an Robert Habeck – aber von wem?

Beobachtungen aus einem digital wehrlosen Land

In Deutschland sind seit Jahrzehnten vorhandene digitale Basistechnologien nicht sehr verbreitet, ja mehr noch: der breiten Bevölkerung unbekannt. Dies wird mit fortschreitender Digitalisierung gefährlich, denn immer mehr Digitales trifft auf Menschen, die es nicht verstehen. So akzeptieren Qualitätsmedien die über 400.000 „Unterstützungserklärungen“ für Robert Habeck, die bei näherer Betrachtung und elementarer digitaler Bildung völlig wertlos sind.

Die Nachricht vom möglichen Rückzug des grünen Kanzlerkandidaten Robert Habeck aus der Politik in Folge des Ausgangs der Bundestagswahl bewegte viele Menschen. Ein Bürger startete eine sogenannte Petition auf campact.de, um Robert Habeck zum Bleiben zu bewegen. Lassen wir außen vor, dass eine Petition eigentlich Regierungshandeln zum Ziel hat und nicht Entscheidungen von Individuen zu ihrem künftigen beruflichen Weg. Mit elementarer digitaler Grundbildung sollte allerdings klar sein, dass die rechtliche Wählereigenschaft bzw. die Existenz der vorgeblichen Unterstützer durch diese Plattformen nie überprüft wird bzw. auch nicht überprüft werden kann. Dies wurde bereits vor fast zwei Jahren auf vdz.org thematisiert, damals anhand des „Manifest für den Frieden“ von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer.

Allerdings nahm bei der aktuellen Petition die Presse wie FAZ, Focus etc., aber auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk die angeblich über 400.000 „Unterschriften“ – im Sinne von 400.000 Wählern für bare Münze und kamen gar nicht auf den Gedanken, ihre Authentizität zu hinterfragen. Die Frankfurter Rundschau schreibt sogar: „Zumindest im Fall des einstigen Co-Chefs der  Grünen wollen das aber Hunderttausende verhindern. Und ihn weiter in einer aktiven Rolle sehen. Auf We act, der Petitionsplattform der Kampagnen-Organisation Campact, wurde noch am Montag ein Offener Brief platziert, den bis Mittwochvormittag (Stand: 10 Uhr) rund 220.000 Bürger unterschrieben.“ und unterstellt den ungeprüften, möglicherweise nicht einmal menschlichen Unterstützern sogar deutsche Staatsangehörigkeit und Wahlrecht.

Sind die „Unterzeichner“ fake?

Wie ein nachvollziehbares selbst durchgeführtes Experiment zeigt, ist es für jeden möglich mittels Wegwerfmailadressen wie z. B. muellmail.com vorgebliche Unterstützung für diese Petition durch eine beliebige Person zu generieren – siehe die nachstehenden Abbildungen, die Fortsetzung folgt am Ende des Artikels:

Deutschland, ein digital ungebildetes Land – der Hälfte der Einwohner fehlt es an elementarer digitaler Bildung

Natürlich soll hier nicht unterstellt werden, dass die 448.247 Unterstützer (Stand 2.3.2025, 19:23 Uhr abzüglich dieses einen Unterstützers) allesamt fake sind. Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen 1 (dem Initiator Konstantin Kugler) und 448.246. Aber wo sie liegt, ist unmöglich herauszufinden, denn auch die Mailadresse mueller-toeroek(at)germanmail.com ist kein Nachweis der Wahlberechtigung eines deutschen Bürgers namens Robert Müller-Török, sondern kann jedermann gehören bzw. von jedermann angelegt werden. Es ist problemlos möglich, tausende oder gar hunderttausende solche „Unterstützer“ durch stark motivierte Menschen, gerne Aktivisten genannt, in Handarbeit erstellen zu lassen oder in industriellem Maßstab über Programme bzw. Bots generieren zu lassen. Es ist offensichtlich, dass Menschen wie Präsident Putin oder Elon Musk hier Möglichkeiten zur Verfügung haben, die weit über das hinausgehen, was sich die hier nicht sehr professionell agierende Presse vorstellen kann. 

Alternativ besteht auch die Möglichkeit, Unterschriften bei professionellen Unternehmen einzukaufen. Dass es Clickfarms überhaupt gibt, ist offenbar nicht Bestandteil digitaler Allgemeinbildung. Zumindest titelt das ZDF seinen Beitrag mit „Hunderttausende unterzeichnen Brief an Habeck“ und nimmt so die Authentizität als gegeben an. Das deckt ein ganz großes Problem auf: die allgemeine digitale Unbildung in Deutschland.

Das „Manifest für Frieden“ – Bürgerbeteiligungen und ihre Glaubwürdigkeit in Deutschland
Bürgerbeteiligung

Das „Manifest für Frieden“ – Bürgerbeteiligungen und ihre Glaubwürdigkeit in Deutschland

Ein abschreckendes Beispiel

Diese Unbildung ist gesicherte und empirisch valide Erkenntnis. So schreibt die Expertenkommission der Bundesregierung in einem am 26. Februar 2025 an den Bundeskanzler übergebenen Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands expressis verbis „denn es zeichnen sich mit Blick auf die  neuen Anforderungen an die Kompetenzen der Beschäftigten schwer zu überbrückende Bildungs- und Qualifikationslücken ab“. 

Um nur ein einziges internationales Ranking von vielen Gleichlautenden herauszugreifen: Der aktuelle State of the Digital Decade Country Report der EU weist 52,2 % der deutschen Bevölkerung mit „basic digital skills“ aus – die andere Hälfte hat keine. Portugal, Ungarn, Griechenland, aber auch Kroatien und die tschechische Republik haben hier deutlich bessere Werte, nicht zu reden vom bekannten Digital-Champion Estland.

Wie digitale Unbildung zu einer realen Gefahr wird

Jetzt stellt sich die nächste Frage: Wenn Presse, öffentlich-rechtlicher Rundfunk und Öffentlichkeit die Authentizität dieser politisch eher folgenlose Petition unproblematisch annehmen, was passiert bei politisch brisanteren Fragestellungen? Denkbare Fälle wären Petitionen von „Millionen Bundesbürgern“, die Bundestagswahl zu wiederholen, Alice Weidel zur Kanzlerin zu machen, die Unterstützung der Ukraine einzustellen oder den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abzuschaffen.

Der Autor betont an dieser Stelle, dass hier seiner Erfahrung und fachlichen Meinung nach nicht böser Wille, sondern schlicht und einfach digitale Unbildung der Handelnden das Problem ist. Und damit stellt sich in der Welt hybrider Kriegsführung ein Problem. Deutschland wäre das staatspolitische Äquivalent eines 84-jährigen Senioren gegenüber einem geschickt agierendem Enkeltrickbetrüger – damit nichts Gravierendes passiert, muss der Zufall auf der richtigen Seite stehen.

Es gibt mittlerweile nicht nur technische Verfahren, um Telefonnummern von Anrufern zu manipulieren (Anruf von der 110), sondern die aufkommende Künstliche Intelligenz ermöglicht viel bösartigere Anwendungen. Es ist für kleines Geld möglich, Fakevideos oder Fake-Social-Media-Anrufe von Qualität zu produzieren, indem man sich der Dienste von hoodem.com oder reface.ai oder einem der zahlreichen Anbieter bedient. Der Fall eines Angestellten einer chinesischen Firma, der mittels einer völlig gefakten Videokonferenz mit vielen „Vorgesetzten“, die ihn anwiesen, 25 Mio. USD zu transferieren, erzeugte weltweite Schlagzeilen.

Letztendlich sind nur Techniken wie eine verbreitete eID, qualifizierte digitale Signatur und dergleichen wirksamer Schutz. Vor Beginn einer Videokonferenz digital signierte Dokumente unter den Teilnehmern auszutauschen und zu überprüfen, wäre solch ein wirksamer Schutz.

Fazit – was wäre zu tun?

Das ist mit zwei Sätzen zu beantworten:

  1. Massive Investition in die digitale Grundbildung, in Möglichkeiten der Informatik und der Digitalisierung, beginnend mit den Journalisten, die solche „Petitionen“ unreflektiert für den Willen des (Wahl-)Volks halten.

  2. Bereitstellung eines behördlich betriebenen oder regulierten Systems für solche Petitionen, damit man sich auf die Authentizität der Unterstützung verlassen kann.
    Ein mögliches Vorbild wäre hierbei das österreichische, vom Bundesministerium für Inneres betriebene System, welches mit der ID Austria die Unterstützung solcher Begehren 24/7 ermöglicht – auch für Auslandsösterreicher – und sogar die aktuelle Eintragung ins zentrale Wählerregister überprüft.

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