Organspende in Deutschland: Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass mehr möglich wäre
Warum das Organspenderegister und das Vorsorgeregister die Realitäten in Europa ignorieren
Das Thema Organspende löst bei vielen Ängste aus: Sieht man mich im Notfall weniger als Patient und eher als mögliches Ersatzteillager? Im Unterschied zu vielen anderen Fragen des Verwaltungshandelns wirft die Organspende ethische, moralische und religiöse Fragen auf, die dieser Artikel nicht diskutieren will. Vielmehr wollen wir einen Beitrag mit dem Argument leisten, dass der verwaltungsseitige Umgang mit dem Thema unnötig kompliziert ist. Damit leistet der deutsche Staat sein Übriges, ein schlechtes Gefühl aufkommen zu lassen.
Deutschland: lange Wartezeiten auf Organe, wenig Spenden
Die Deutschen sind sehr zurückhaltend bei der Organspende. Pro Kopf gerechnet liegt Deutschland auf Platz 24 von 29 in Europa. Bei den Organempfängerinnen und -empfängern sieht es kaum besser aus, Platz 20 von 28. Es ist wohlbekannt, dass Deutschland kaum Spenderinnen und Spender sowie lange Wartezeiten hat. Menschen in Deutschland warten also viel länger als in den meisten anderen Ländern Europas. Prof. Dr. Kai-Uwe Eckhardt, tätig an der Charité Berlin, bekräftigt im Tagesspiegel: „Patienten in unseren Nachbarländern warten vielfach nur halb so lange. In einigen Ländern wie Spanien oder Österreich liegt die Wartezeit deutlich unter vier Jahren.“
Ein kleines Benchmarking: Acht Jahre Wartezeit auf eine Niere sind in Deutschland normal, allein in Baden-Württemberg warten 946 Menschen auf eine Spenderniere, in ganz Deutschland rund 7.000.
Sogar im Vereinigten Königreich, das wegen seines schlechten Gesundheitssystems oft kritisiert wird, beträgt die Wartezeit laut der nationalen Gesundheitsbehörde NHS nur 2-3 Jahre. Auch im deutschen Nachbarland Österreich sind es nur knapp über drei Jahre ab der ersten Dialyse.
Um das Ganze ein wenig zu ordnen, hier zwei Rahmenbedingungen:
- Die Regeln für Organentnahme und Widerspruch sind von Land zu Land höchst unterschiedlich.
- Es gelten die Regeln des Landes, in dem sich die Spenderin oder der Spender (bzw. das Unfallopfer) physisch befindet bzw. in dem die Person, die die Spende erhalten soll, den Hauptwohnsitz hat.
Die BZgA „warnt“ diesbezüglich auf ihren Webseiten: „Wenn eine Person im Ausland verstirbt, so wird sie nach der gesetzlichen Regelung des jeweiligen Landes behandelt, nicht nach der des Heimatlandes.“ Für eine Person aus Deutschland, die in Österreich verunglückt, würde das beispielsweise bedeuten, dass Organe entnommen werden, ungeachtet dessen, ob ein Organspendeausweis vorliegt.
Verhindert die Gesetzgebung mehr Organspenden bzw. –entnahmen?
Die deutsche Regelung ist einzigartig in Europa – und sie erschwert, wie offensichtlich ist, die Entnahme von Organen erheblich.
In Deutschland gilt die sogenannte Entscheidungslösung. Organe dürfen – zumindest auf deutschen Boden – nur dann entnommen werden, wenn die Person zu ihren Lebzeiten zugestimmt hat. Wenn keine Entscheidung vorliegt, werden die Angehörigen nach ihrer Entscheidung gefragt.
Damit steht jede Organentnahme unter der aufschiebenden Bedingung, dass eine Entscheidung – wohl in schriftlicher Form – vorliegt. Auch ohne allzu große juristische Kenntnisse ist klar, dass die Beweislast auf Seiten der organentnehmenden Stelle liegt.
Das ist in anderen europäischen Ländern anders, wie die Pharmazeutische Zeitung oder RND belegen: So kann in Bulgarien trotz eines vorliegenden Widerspruchs ein Organ entnommen werden, wenn ein Notfall vorliegt.
Andere Länder haben Widerspruchslösungen: Liegt in Ländern wie Italien, Kroatien, Österreich oder Ungarn kein Widerspruch vor, kann eine Entnahme erfolgen.
Die deutsche Regelung ist einzigartig in Europa – und sie erschwert, wie offensichtlich ist, die Entnahme von Organen erheblich, denn es gilt: keine dokumentierte Zustimmung, keine Organentnahme.
Ermöglichungs- oder Verhinderungsverwaltung?
Wie erfolgt nun der Nachweis der – wohl nicht mehr kommunikationsfähigen – Person in der Entnahmestelle, in der Regel einem Krankenhaus?
Einerseits als seit Jahren bekanntes Papierkärtchen und neuerdings auch als Plastikkärtchen verfügbar, geht die Verwaltung davon aus, dass:
- dieses Plastik- oder Papierkärtchen ständig, vor allem unterwegs, von der potenziellen Spenderin oder dem potentiellen Spender mitgeführt wird.
- das Kärtchen auch mit der potentiell spendenden Person im Krankenhaus eintrifft. Gerade bei Unfallopfern sind viele Lebensumstände denkbar, die dazu führen, dass das Vorliegen der Dokumentation verhindert wird.
- hilfsweise eine Patientenverfügung zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Entnahme eines Organs vorliegt. Falls die Patientenverfügung allerdings im freiwilligen Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer liegt, ist ein Zugriff von außerhalb Deutschlands systemisch nicht möglich.
Seit einiger Zeit erhält man in Deutschland von der Krankenversicherung auch postalisch Informationen zum Organspendeausweis. Angesichts der Rücklaufquoten ist das eher der Ausdruck der Hilflosigkeit und kein probates Mittel. 84 Prozent der Menschen in Deutschland standen, Stand 2019, einer Organ- und Gewebespende positiv gegenüber, 36 Prozent besaßen einen Organspendeausweis.
Nun gibt es seit kurzem ein Organspenderegister, welches beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte geführt wird. Dieses ist freiwillig, nicht verpflichtend, und so sagt das Institut selbst: „Die Entscheidung für oder gegen eine Organ- und Gewebespende kann auch weiterhin zum Beispiel im Organspendeausweis, in der Patientenverfügung oder jeder weiteren schriftlichen Form festgehalten werden. Ebenso ist weiterhin eine mündliche Mitteilung an die Angehörigen möglich.“
Dieses Organspenderegister hat noch eine Eigenschaft, die der Realität der deutschen Einwohnerschaft mit ihrem hohen nicht-deutschen Anteil nicht entspricht und für e-Government-Profis unverständlich ist: Es diskriminiert EU- und EWR-Ausländerinnen und- Ausländer. So ist nach eigener Erklärung des Instituts die Erklärung der Bereitschaft zur Organspende nur nach Authentifikation mit eID-Funktion des Personalausweises, elektronischen Aufenthaltstitels oder der eID-Karte für EWR- und Unionsbürger möglich.
Alternativ wird die Bereitschaftserklärung auch über die App der Krankenversicherung mit digitaler Identität (GesundheitsID) akzeptiert. Diese App bieten allerdings nicht alle Krankenkassen an, insbesondere bei Privatversicherten bestehen hier große Lücken – wie vom e-Rezept her bekannt. Die Versorgungsämter hingegen, welche bei Beamten einen Teil der Rezeptkosten übernehmen, bieten hier gegenwärtig noch nichts an. Dass die Beamtengesetze EU-Bürgerinnen und -Bürgern sowie Menschen aus bestimmten Drittstaaten die Möglichkeit der Verbeamtung in Deutschland einräumen, scheint sich hier nicht herumgesprochen zu haben.
Nach Artikel 6 der eIDAS-Verordnung (konsolidierte Fassung Oktober 2024) sind von der Europäischen Kommission als gleichwertig im Amtsblatt veröffentlichte eIDs anderer Staaten der EU und des EWR zwingend genauso anzuerkennen wie die eID des deutschen Personalausweises. Weshalb das Organspenderegister offenbar den 4,9 Millionen Unions- und zigtausenden EWR-Bürgerinnen und -Bürgern in Deutschland hier unnötige Barrieren aufbaut, ist nicht nachzuvollziehen – und, vorbehaltlich juristischer Spitzfindigkeiten bezüglich des Zugangs über Krankenversicherungskarten, wohl auch klar rechtswidrig.
Fazit – dringender Handlungsbedarf von Gesetzgebung und Verwaltung
Spanien ist führend bei Organspenden und –transplantationen in Europa. Wissenschaftliche Untersuchungen führen den Erfolg auf drei Faktoren zurück:
- einen soliden und durchdachten gesetzlichen Rahmen,
- starke Führung und Umsetzung in den Klinken,
- ein gut organisiertes Logistiknetzwerk unter Leitung einer nationalen Transplantationsbehörde.
Nr. 2 und 3 sind in Deutschland ebenso problemlos leistbar. Der Unterschied wird also im gesetzlichen Rahmen zu finden sein. Vergleicht man die Organspendequoten und Regelungen europäischer Staaten, fällt auf, dass in allen Staaten mit hoher Organspendebereitschaft die Widerspruchslösung gilt. Die Staaten, die eine positive Entscheidung für die Organspende fordern, liegen alle im hinteren Bereich.
Als wesentlicher Erfolgsfaktor wird angeführt, dass jeder Mensch eine potenzielle Organspenderin oder ein potentieller Organspender ist, wobei die Familienangehörigen ggf. die letzte Entscheidung haben. Modelle wie das deutsche taugen nur dafür, dass man in Kliniken hektisch nach Papier- oder Plastikkärtchen sucht und Angst davor hat, Rechtsfehler zu begehen.
2019 wurde im deutschen Bundestag abgestimmt. Die „doppelte Widerspruchslösung" fand keine Mehrheit. Stattdessen gilt nach wie vor die Entscheidungslösung.
2019 lagen dem deutschen Bundestag zwei interfraktionelle Anträge vor. Die Entscheidungslösung, die eine parlamentarische Mehrheit fand, und die „doppelte Widerspruchslösung“, welche scheiterte. Nach letzterer wäre alle Bürgerinnen und Bürger automatisch Organ- oder Gewebespenderinnen und -spender, die nicht zu Lebzeiten ausdrücklich widersprochen hätte. Damit würde die heutige Regelung umgedreht: Derzeit spendet nur, wer ausdrücklich zustimmt.
Es bleibt zu hoffen, dass eine künftige Regierungspartei dieses Thema zu einem ihrer Anliegen in den Koalitionsverhandlungen macht und den deutschen Sonderweg beendet. Allerdings bitte EU-rechtskonform ausgestaltet in der Verwaltung.