Verwaltung der Zukunft: Sie starten Ihre 100 Vorschläge mit Ihrem eindringlichen Zitat von 2021: „Wir brauchen eine Jahrhundertreform – vielleicht sogar eine Revolution“. Warum, glauben Sie, ist seither so wenig passiert?
Ralph Brinkhaus: Erstens: Vor vier Jahren war der Druck noch nicht so spürbar wie heute. Mittlerweile merkt wirklich jeder, dass der Staat nicht mehr so funktioniert wie er sollte.
Zweitens arbeitet Politik zu oft im Krisenmodus. Das bedeutet, dass wir uns hauptsächlich darauf konzentrieren, akute Probleme zu lösen, wie den russischen Überfall auf die Ukraine. Solche Herausforderungen haben viel Managementkapazität gebunden, weshalb das Thema Staatsmodernisierung nicht so priorisiert wurde, wie es hätte sein sollen.
Der dritte Punkt ist, dass es in der Staatsmodernisierung schwierig ist, schnelle und medienwirksame Erfolge zu erzielen. Man kann keine große Schlagzeile für die Titelseiten generieren. Staatsmodernisierung ist ein mühsamer Prozess. Und das macht dieses Thema im Anreizsystem der Politik weniger attraktiv als andere Bereiche.
Was ich jedoch momentan beobachte ist, dass das Thema nach vier Jahren beginnt an Bedeutung zu gewinnen. Es gibt viele Positionspapiere, sowohl aus verschiedenen Parteien als auch von NGOs und der Wissenschaft. Auch die Medien schenken dem Thema mehr Aufmerksamkeit. Deshalb bin ich optimistisch, dass Staatsmodernisierung in der nächsten Legislaturperiode eine höhere Wichtigkeit haben wird.
VdZ: Ihre Reformvorschläge sollen innerhalb der nächsten Legislaturperiode gestartet werden. Wie realistisch ist es, dass eine Bundesregierung diese Vorschläge politisch priorisiert und umsetzt? Konnten Sie eine Änderung in der Gewichtung der Parteien feststellen?
Brinkhaus: Die politischen Führungskräfte müssen das Thema wirklich wollen. Wir sehen auch, dass die Parteien zunehmend Interesse an dem Thema haben. Das zeigt sich zum Beispiel bei der vielseitigen Diskussion über die Ausgestaltung eines Digitalministeriums. Das ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber ausreichend ist der noch nicht. Denn es geht nicht nur um Digitalisierung, sondern in erster Linie um die Transformation der Verwaltung.
Ich bin jedoch zuversichtlich, dass das Thema in der kommenden Legislaturperiode mehr Gewicht und Bedeutung erlangen wird. Wichtig ist aber, dass man dranbleibt – das weiß ich aus eigener politischer Erfahrung. Man plant für die nächsten vier Jahre, doch dann passiert etwas – sei es eine Bankenkrise wie 2008, eine Staatsverschuldungskrise 2010 bis 2015, die Migrationskrise, Fukushima, der Brexit oder ein unerwarteter Präsident in den USA. All diese Ereignisse werfen vieles durcheinander. Entscheidend ist, dass der Bundeskanzler das Thema als Priorität behandelt und es trotz des Tagesgeschäfts konsequent verfolgt.
Die Ampelregierung hatte jetzt dreieinhalb Jahre Zeit und ehrlich gesagt, es ist nicht so unglaublich viel passiert. Im Wahl- und Regierungsprogramm der Union finden sich einige gute und vielversprechende Ansätze. Letztlich kommt es aber darauf an, dass diese auch tatsächlich umgesetzt werden.
Denn jeden Tag sind die Menschen in diesem Staat vielen kleinen Frustrationen ausgesetzt: Formulare, die kompliziert sind und umfangsreich beantragt werden müssen, Genehmigungsverfahren für Umbauten dauern zu lange, Baustellen werden nicht fertig, Züge fahren nicht, Kitabetreuung ist unzuverlässig wegen hoher Personalausfälle und wer einen schwerkranken Angehörigen hat, kämpft mit den Krankenkassen und Behörden um Reha- oder Umbauleistungen. Wenn man all das zusammenzählt, entsteht ein enormer Berg Frust. Dieser Frust führt dazu, dass immer mehr Menschen anfangen zu zweifeln, ob unser demokratisches System noch das Richtige ist und ob die demokratischen Parteien in der Lage sind, die notwendigen Veränderungen umzusetzen. Wenn wir in diesem Bereich nicht besser werden, dann haben wir spätestens bei der Bundestagswahl 2029 ein großes Problem. Dann wird die Wahlentscheidung nicht mehr zwischen den demokratischen Parteien stattfinden, sondern zwischen Demokraten auf der einen Seite und Populisten und Extremisten auf der anderen.
Dieser Frust führt dazu, dass immer mehr Menschen anfangen zu zweifeln, ob unser demokratisches System noch das Richtige ist und ob die demokratischen Parteien in der Lage sind, die notwendigen Veränderungen umzusetzen.
VdZ: Ihr Reformplan setzt stark auf „marginal gains“, also kleine Verbesserungen. Gibt es dennoch „Leuchtturmprojekte“, die größere Veränderungen sofort sichtbar machen könnten, um das Vertrauen der Bürger*innen zu gewinnen?
Brinkhaus: Ein zentraler Aspekt ist die Ziel- und Wirkungsorientierung in der Politik. Es muss klar kommuniziert werden, dass wir bestimmte langfristige Ziele haben. Diese Ziele müssen ständig erläutert werden, damit jeder versteht, welche Maßnahmen zu welchem Ziel führen. Zum Beispiel wird oft über Gesundheitspolitik gesprochen. Im Zuge dieser Diskussion sprechen wir aber nur darüber, welches Krankenhaus erhalten werden soll und welches nicht. Das Ziel sollte aber sein, die Lebenserwartung in Deutschland zu erhöhen. Es fehlt also der übergeordnete Fokus. Das könnte ich den Menschen leicht vermitteln, indem ich erkläre, dass jede gesundheitspolitische Maßnahme darauf abzielt, ihnen eine höhere Lebenserwartung zu ermöglichen. Genauso verhält es sich auch in anderen Bereichen, etwa in der Wirtschaftspolitik: Wir streben Wirtschaftswachstum an und ich kann erklären, dass jede Maßnahme dazu beiträgt, dieses Wachstum, also das übergeordnete Ziel, zu fördern. Diese systematische Herangehensweise fehlt in der Politik oft.
Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt ist die Priorisierung politscher Vorhaben. Das ist entscheidend, weil man nicht alles gleichzeitig umsetzen kann. Politik neigt dazu, einen Katalog von sehr vielen politischen Vorhaben zu präsentieren und diese gleichzeitig umsetzen zu wollen. Das funktioniert nicht. Der erste Schritt wäre vier oder fünf Ziele zu setzen. Zum Beispiel der Kampf gegen den Klimawandel, die äußere Sicherheit, Wirtschaftspolitik oder eine Steuerung der Migration – je nach Partei gibt es da unterschiedliche Akzente. Aber wichtig ist, dass man sich klar auf diese Ziele konzentriert. Es ist unrealistisch zu erwarten, dass wir alle Themen gleichzeitig mit der gleichen Priorität angehen können, von der Kindergrundsicherung bis hin zur Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr. Das funktioniert nicht.
Und ganz entscheidend ist: Menschen, Menschen, Menschen. Wir müssen uns mehr mit denen befassen, die im öffentlichen Sektor arbeiten. Sie leisten genauso gute Arbeit wie diejenigen in der Wirtschaft oder in anderen Bereichen. Den Verwaltungen fehlt es oft an Anreizen, die die Motivation der Menschen ansprechen. Wir brauchen neue Ansätze, damit Menschen mit echter Freude im öffentlichen Dienst arbeiten können. Ihnen muss mehr Raum gegeben werden, sich weiterzuentwickeln und ihre Ideen einzubringen. Es gilt, das starre Dienstrecht und die starren Hierarchien zu überwinden und die juristische Dominanz hinter uns zu lassen.
Diese beiden Punkte – Ziel- und Wirkungsorientierung einerseits und der Fokus auf die Menschen andererseits – sind die zentralen Aspekte, die es anzugehen gilt.
Es ist unrealistisch, zu erwarten, dass wir alle Themen gleichzeitig mit der gleichen Priorität angehen können.
VdZ: In Ihrem Reformvorschlag sprechen Sie von Kennzahlen zur Messbarkeit politischer Ziele. Besteht hier die Gefahr, dass diese Kennzahlen zur bloßen Statistik werden, ohne reale Verbesserungen zu bewirken? Wie kann dies verhindert werden?
Brinkhaus: Ich komme aus der Betriebs- und Wirtschaftswissenschaft, wo wir sehr viel mit Kennzahlen arbeiten. Das ist in der Verwaltung nicht der vorherrschende Ansatz. Trotzdem sage ich: Man darf Zahlen nicht überschätzen. Wenn man ausschließlich nach Zahlen steuert, übersieht man wichtige weiche Faktoren, die ebenfalls eine Rolle spielen. Es stimmt auch, dass ein Land nicht wie ein Unternehmen geführt werden kann. Die Zielsetzungen, Rahmenbedingungen und Auswirkungen sind ganz andere. Ein Staat hingegen darf keine Fehler machen, weil sie in Bereichen wie der Corona-Pandemie Menschenleben kosten können. Das ist eine völlig andere Dimension.
Gleichzeitig sind Zahlen aber wichtig, um Orientierung zu geben. Und hier kommt der entscheidende Punkt: Damit Zahlen wirksam werden, müssen sie im höchsten direkt gewählten Verfassungsorgan, dem Deutschen Bundestag, verankert sein.
Ein Beispiel: Wenn das Ziel war, Bürger aus dem Bürgergeld zu holen und wir stattdessen mehr Menschen im Bürgergeld haben, müsste sich der Bundestag damit auseinandersetzen. Der Arbeitsminister könnte erklären, dass der Anstieg durch zusätzliche Migrantinnen und Migranten verursacht wurde und bei den Langzeitarbeitslosen Fortschritte erzielt wurden. Aber der Bundestag müsste diese Zielerreichung kritisch bewerten, gegebenenfalls neue Ziele festlegen oder die Regierung auffordern, ihre Hausaufgaben zu machen. Auch die Haushaltsplanung und Gesetzgebung müssten konsequent an den Zielen ausgerichtet sein.
Das würde beispielsweise bedeuten, wenn der Verteidigungsminister ein Budget beantragt, sollte geprüft werden, ob es zur Steigerung der Kampffähigkeit der Bundeswehr beiträgt. Kürzlich gab es einen Fall, in dem das Verteidigungsministerium neue Ausgehuniformen beantragen wollte. Das mag wichtig sein, trägt aber nicht zur Kampffähigkeit der Truppe bei. Ein klarer Fokus auf Ziele würde dazu führen, dass Budgetentscheidungen und politische Maßnahmen besser darauf ausgerichtet werden, die definierten Ziele tatsächlich zu erreichen. Das wäre ein grundlegend anderer, aber vielversprechender Politikansatz.
VdZ: Was möchten Sie den Kritikern Ihrer Reformagenda entgegnen, die sie möglicherweise als unrealistisch oder zu radikal empfinden?
Brinkhaus: Es gibt viele positive, aber auch kritische Stimmen. Tatsächlich freue ich mich oft sogar mehr über die kritischen Stimmen, weil sie mich herausfordern, meine Position noch einmal zu überdenken. Meine Antwort ist dann meistens: „Macht bitte einen Gegenvorschlag.“ Wenn zum Beispiel jemand sagt, das Dienstrecht im öffentlichen Bereich sei gut und müsse bleiben, antworte ich: „Nein, bestimmte Leute können wir so einfach nicht in den öffentlichen Dienst holen, weil sie nicht in die bestehenden Schablonen passen. Macht einen Vorschlag, wie wir diese Menschen trotzdem einbinden können.“ Daraus entwickeln sich oft konstruktive Diskussionen.
Ich glaube die meisten, mit denen ich spreche, sind sich darüber einig, dass, um es mit einem italienischen Autor zu sagen, sich „alles ändern muss, damit alles so bleibt, wie es ist.“ Das bedeutet, wir müssen viele Dinge anstoßen, um das Qualitätsniveau, das Deutschland in der öffentlichen Verwaltung und im Staat traditionell hatte, wiederzuerlangen. Früher, zur Zeit der Preußen, galt die hiesige Verwaltung als Vorbild. Man hat uns vielleicht nicht zugetraut, dass wir die besten Feste feiern oder den besten Wein machen, aber man wusste, dass in Deutschland die Verwaltung hervorragend funktioniert. Da sind wir heute nicht mehr und wir müssen dorthin zurück.
Es gibt eine große Diskussion darüber, wie Digitalisierung und Verwaltungsmodernisierung am besten organisiert werden sollen. Einige sprechen von einem Transformationsministerium. In vielen Programmen ist ein Digitalministerium vorgesehen. Andere fordern, dass diese Aufgaben im Bundeskanzleramt angesiedelt werden, um eine klare Top-Down-Führung durch den Bundeskanzler zu gewährleisten. All diese Argumente sind wichtig und wert, kontrovers diskutiert zu werden.
Unser Ziel ist es, dass sich möglichst viele Gedanken darüber machen, was sie auf ihrer Ebene verändern können. Das, was ich für die Bundesebene vorschlage, lässt sich auch auf die Länder- und Kommunalebene übertragen. Nicht das Ressortprinzip der Bundesregierung, aber viele andere Aspekte wie der Umgang mit Menschen in der Verwaltung, die Ziel- und Wirkungsorientierung oder die Bürgerzentrierung bei Prozessen und Fachverfahren. Es gibt hier zahlreiche Ansatzpunkte.
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