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Das Deutschlandticket: Wenn Leistung keinen Umsatz mehr bedeutet

Wer Deutschlandtickets verkauft, behält das Geld – Die Leistung erbringen andere

Ein Artikel von Robert Müller-Török, Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg

ÖPNV bis 2023: Wer die Leistung erbringt, erhält das Entgelt

In der sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland nach 1948 galt das (Markt)Prinzip, dass derjenige, der eine Leistung erbringt, dafür die Gegenleistung in Geld, den Marktpreis erhält und über ihn verfügen kann. Erbringt jemand keine Leistung, so erhält er kein Entgelt und umgekehrt, wer eine Leistung erbringt, wird dafür bezahlt. Dies galt bislang im ÖPNV. Innerhalb der Verkehrsverbünde bzw. Tarifgemeinschaften von Verkehrsunternehmen, gab es Tickets, die zu Fahrten im jeweiligen Verbund berechtigten und für die an ebendiesen Verbund zu bezahlen war. Somit war sichergestellt, dass z. B. ein Pendler, der von Freising nach München pendelte, einen vom Münchner Verkehrsverbund (MVV) festgelegten Preis für die ihm erbrachte Leistung an den MVV bezahlt.  

Es gab in diesem System Ausnahmen, die allerdings nur kleine Gruppen der ÖPNV-Fahrgäste betrafen, nämlich 

Diesen Personengruppen war eines gemeinsam: Sie waren, verglichen mit der Gesamtpassagierzahl von ca. 20 Millionen täglich und auch mit ca. 12 Millionen Abo-Kunden laut VDV-Statistik recht klein. Die Gesamteinnahmen des ÖPNV belaufen sich, wenigstens in Nicht-Pandemie-Jahren, auf ca. 13 Mrd. Euro. Und ein Verkehrsverbund konnte sich ziemlich sicher sein, dass in seinem Gebiet fast ausschließlich Tickets genutzt wurden, die bei ebendiesem Verbund gekauft und bezahlt wurden. So hatte z. B. der Münchner Verkehrsverbund im letzten „normalen“, d.h. nicht von der Pandemie beeinflussten Geschäftsjahr 2019 70,02 % Anteil Abokunden, die ihr Abo beim MVV bezahlten. 

Transparenz im ÖPNV: Verbesserungsfähig!

Transparenz, insbesondere hinsichtlich finanzieller Kennzahlen, ist im ÖPNV in Deutschland leider nicht sehr ausgeprägt. Nimmt man die Landeshauptstadt Stuttgart, so bietet der dortige Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS) in seinen „Zahlen, Daten, Fakten – Verbundbericht 2021“ zwar die Anzahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigter in Böblingen, Esslingen etc., die Anzahl der Fahrradboxen, aber die Einnahmen werden pauschal als „Verbundeinnahmen“ ausgewiesen. Wie hoch der Anteil der Fahrgeldeinnahmen ist, muss selbst geschätzt und geraten werden. Auch der ausführliche Verbundbericht 2021 bietet hier nichts. Man muss schon in die einzelnen Verkehrsunternehmen gehen und bei denen, die als bspw. kommunale Unternehmen zu Veröffentlichungen gezwungen sind, in den Detailberichten lesen. So weist die Stuttgarter Straßenbahn AG (SSB) als größter Teil des VVS 2021 152,8 Mio. Euro Fahrgeldeinnahmen aus. Wie hoch die Zuschüsse und Ausgleichszahlungen sind, was sich z. B. hinter 44,9 Mio. Euro „Zuwendungen für verbundbedingte Belastungen“ im Detail verbirgt, ist nicht transparent dargestellt. Insgesamt lassen sich erfahrungsgemäß Fragen wie „Wie hoch ist der Deckungsgrad der Aufwände durch Fahrgelderlöse?“ meist nicht, nur sehr aufwändig bzw. annähernd beantworten. Einschlägige, aufwändig erstellte Studien, bspw. von E&Y über die Entwicklung der Kostendeckung im ÖPNV, geben einen Kostendeckungsgrad aus Fahrgeldeinnahmen von knapp unter 50 % an. Und dies vor der jüngst überstandenen Pandemie. 

Die große Unbekannte: Wie viele Fahrgäste werden überhaupt auf welchen Strecken befördert?

„Alle Jahre wieder“ bzw. je nach Verkehrsverbund auch in erheblich größeren Abständen erfolgt eine sogenannte Fahrgastzählung. So werden für Braunschweig Fahrgastzähler gesucht, die folgende Aufgaben erfüllen sollen: 

  • Zählung der Fahrgäste in den Nahverkehrszügen und Bussen 

  • Befragung der Fahrgäste zum Fahrweg und den genutzten Fahrscheinen 

  • Erfassung der Daten mittels PDA/Smartphone. 

Der statistische Wert bzw. die Aussagekraft einer solchen Zählung, die natürlich nur an wenigen Tagen alle paar Jahre stattfindet, ist äußerst beschränkt. Auch ein Stundenlohn von brutto 13 Euro scheint kein Incentive für eine hohe Datenerfassungsqualität zu sein und ist keinesfalls mit einer lückenlosen Erfassung vergleichbar, wie sie in London stattfindet und auch transparent via Open Data verfügbar ist. Die Daten dort sind belastbar, denn sie basieren auf dem System „Oyster Card“, welches eine lückenlose Erfassung der tatsächlich gefahrenen Strecken unter Wahrung des Datenschutzes ermöglicht. 

Vereinfacht gesagt, weiß kein deutsches Verkehrsunternehmen, wer, oder datenschutzkonform, dass überhaupt eine Person zu einer bestimmten Zeit mit einem bestimmten Ticket eine bestimmte Strecke gefahren ist. Alle diesbezüglichen Zahlen sind Schätzungen, die nicht auf einer belastbaren Basis punktuell erhobener Daten erstellt werden. Dies ist durchaus logisch, denn wenn jemand an der Konstablerwache in Frankfurt/Main einen Einzelfahrschein in Papierform oder als „primitivdigitalisiertes Papier“ via App kauft, so weiß niemand und erfasst niemand, ob der oder die Betreffende damit überhaupt gefahren ist und falls ja, mit welchem Bus, welcher U-Bahn etc., oder wohin.  

Die 2021 eingeführte neue Funktion der VVS App, mit der Fahrgäste die Auslastung der Busse und Bahnen melden können, belegt dass der VVS selbst über diese Informationen nicht verfügt. Vielmehr bittet er, ihm zu sagen, wie ausgelastet die eigenen Fahrzeuge sind.  

Das Deutschlandticket: The seller takes it all

Zumindest in 2023 gilt: Wer das Deutschlandticket verkauft, erhält die 49 Euro monatlich zur Gänze. Dem bayerischen Staatsministerium für Verkehr nach ist ab 2024 eine Aufteilung „auf die Bundesländer nach dem Wohnortprinzip mit anschließender Korrektur auf Grundlage von Balancefaktoren (z. B. für Tourismus, Transit).“ beabsichtigt, ab 2026 soll „ein nachfrageorientiertes Einnahmeaufteilungsverfahren zur Anwendung gebracht“ werden. 

Dies führt zumindest bis 2026, danach vorbehaltlich der Ausgestaltung dieses Einnahmeaufteilungsverfahrens, zu einem wesentlichen Ergebnis: Im ÖPNV in Deutschland ab 1. Mai 2023 ist das Entgelt unabhängig von der tatsächlich erbrachten und in Anspruch genommenen Leistung. Derjenige, der den Bus, die Straßenbahn oder die U-Bahn betreibt und die wirtschaftliche Verantwortung hat, erhält vom Fahrgast für die ihm erbrachte Leistung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nichts. Sondern nur noch abstrakte Alimentationen des Staats, die sich nicht auf die tatsächlich erbrachte Leistung in Fahrgastkilometern beziehen. 

Damit ist nicht mehr sichergestellt, dass die bisherigen Abokunden von z. B. den Leipziger Verkehrsbetrieben ihr Deutschlandticket auch dort kaufen – und nicht bei den Verkehrsbetrieben in Halle/Saale, Berlin oder bei der Deutschen Bahn AG. Nicht verwunderlich, dass Medienberichten nach etliche Verkehrsunternehmen Rabatte und Zugaben bieten, um die Geldströme zu sich umzulenken.  

Beim „the seller takes it all ist besonders bemerkenswert, wie aus unabhängigen Anfragen der Linken wie der AfD im Bundestag hervorging: Die Webseite www.deutschlandticket.de gehört Transdev, einem „privaten“ Eisenbahnunternehmen und auch ÖPNV-Unternehmen, deren Besitzer zu 66 % die Caisse des Dépôts et Consignations, eine 1816 gegründete Staatsbank im Besitz der Republik Frankreich, und zu 34 % die Rethmann-Gruppe sind. Wohin eine Internetsuche nach „Deutschlandticket“ führt und wohin dann das Geld für ein dort gekauftes Deutschlandticket fließt, ist offensichtlich. 

Fazit: Entkoppelung von Leistungserbringung und Entgelt

Bislang konnten sich Fahrgäste im ÖPNV Deutschlands zumindest der Illusion hingeben, dass sie für den Transport auch bezahlten – und somit Kunden im Sinne des Marktbegriffs waren. Mittlerweile ist dies zumindest für die sieben Millionen Deutschlandticket-Besitzer nicht mehr zutreffend. Diese bezahlen an irgendeines von ca. 630 Verkehrsunternehmen und die anderen 629 erbringen die Transportleistung, ohne Fahrgeld vom Ticketbesitzer zu bekommen.  

Es stellt sich die Frage, welches Motiv ein Verkehrsunternehmen hat, bei Inanspruchnahme durch Nichtkunden Leistungen zu erbringen. Beispielsweise zusätzliche Busse oder Züge einzusetzen, wenn Deutschlandticketbesitzer Wochenendausflüge machen oder Butter- bzw. Zigarettenfahrten von Rosenheim nach Salzburg. Die Antwort, zumindest laut Marktlehre ist einfach: keines. Denn in einer Marktwirtschaft, auch in einer sozialen Marktwirtschaft, gibt es Leistung nur gegen Entgelt.  

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Das Deutschlandticket ist wie ein bei einer beliebigen Kneipe gekaufter Gutschein für 365 Biere, der in jeder Kneipe in Deutschland eingelöst werden kann. Das Geld für den Gutschein bleibt bei der Kneipe, die den Gutschein verkauft hat und die Kneipe, wo die Biere getrunken werden, kriegt dafür vom Staat einen Ausgleich bis zur Höhe von maximal den in 2019 verkauften Bieren, die je nach Bundesland vielleicht und unterschiedlich auf 2023 hochgerechnet werden

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