Wie kluge Menschen zu schlechten Entscheidungen kommen
Prof. Bless über Fallstricke von Entscheidungen in Gruppen
Verwaltung der Zukunft: Um was ging es in Ihrer Werkstatt "Fallstricke von Gruppenentscheidungen"? Und was genau sind denn die gängigen Fallstricke?
Prof. Dr. Herbert Bless: In der Werkstatt ging es um Entscheidungen in Gruppen, ein Thema, das im Alltag von Organisationen eine zentrale Rolle spielt. Warum werden Entscheidungen – oder zumindest die Grundlagen für diese Entscheidungen – in Gruppen getroffen? Man erhofft sich, dass in der Gruppe ein breites Spektrum an relevantem Wissen vorhanden ist. Was spricht für eine bestimmte Option, was dagegen? Welche verschiedenen Alternativen gibt es? Das Ziel ist, dass in der Gruppendiskussion möglichst alle Vor- und Nachteile der verschiedenen Optionen zur Sprache kommen, um eine fundierte Entscheidungsgrundlage zu schaffen.
Nach dem Studium der Psychologie an der Universität Heidelberg und längeren Forschungsaufenthalten in den USA hatte er von 1999 bis 2025 den Lehrstuhl für Mikrosoziologie und Sozialpsychologie inne.
Seine Arbeiten zu einem breiten Themenspektrum (u.a., Entscheidungsforschung, Einstellungsänderung, Werbepsychologie, Umfrageforschung) sind in führenden internationalen Fachzeitschriften publiziert.
Dieses Prinzip funktioniert jedoch nur, wenn es gelingt, das vielfältige Wissen und die Informationen, die die unterschiedlichen Teilnehmenden mitbringen, tatsächlich in die Diskussion einzubringen. Leider ist dies oft nicht der Fall. Die Herausforderungen liegen primär darin, dass nicht alle Argumente vorgebracht werden. Stattdessen spiegelt die Diskussion häufig nicht das gesamte Spektrum der Argumente wider und konzentriert sich selektiv auf einige Aspekte. Es lässt sich beobachten, dass vor allem solche Argumente eingebracht werden, die entweder der vermeintlichen Position der Führungsperson oder der vermeintlichen Mehrheitsmeinung entsprechen. Abweichende Informationen werden oft „unterschlagen“ und fließen somit nicht in die Diskussion ein.
Wenn abweichende Positionen jedoch nicht geäußert werden, entsteht der Eindruck eines vermeintlich breiten Konsenses, was dazu führt, dass man sich bei der Entscheidung sehr sicher fühlt. Diese Sicherheit ist jedoch oft trügerisch und kann zu schlechten Entscheidungen führen, da der Konsens nur an der Oberfläche existiert und nicht tatsächlich vorhanden ist.
VdZ: Welche psychologischen Mechanismen stehen hinter der Tendenz, bestimmte Perspektiven zu favorisieren und andere Meinungen zu ignorieren?
Prof. Bless: Diese Tendenz ist durch das Motiv geprägt, akzeptiert zu werden und zur Gruppe „dazuzugehören“. Ausgeschlossen zu sein ist äußerst aversiv – selbst in geringem Maße. Das Schaffen von „Gemeinsamkeiten“ fördert ein Gefühl der Sympathie. So versucht man beispielsweise bei einem ersten Date, Gemeinsamkeiten herzustellen, um sympathisch zu wirken. Abweichungen bergen das Risiko, dass die Mehrheit diese Position in irgendeiner Weise „sanktioniert“. Daher neigen Menschen dazu, sich der vermuteten Position der Mehrheit anzuschließen. Häufig werden vor allem solche Argumente genannt, die der vermuteten Mehrheit entsprechen. Dies führt dazu, dass viel Zeit damit verbracht wird, über Aspekte zu sprechen, die allen gut bekannt sind, während abweichende Positionen in den Hintergrund treten.
Eine besondere Rolle spielt dabei die Führungsperson. Wenn diese erkennen lässt, welche Position sie bevorzugt, ist die Selektivität bei der Nennung von Argumenten bereits vorprogrammiert. Es erfordert Mut, der Führungsperson zu widersprechen und eine gegensätzliche Position einzunehmen. Ich vermute, dass jeder in einer Gruppensitzung schon einmal darüber nachgedacht hat, ein Argument, das der Führungsperson widerspricht, offen zu legen – oder es vielleicht doch besser zu verschweigen.
Wenn die Führungsperson erkennen lässt, welche Position sie bevorzugt, ist die Selektivität bei der Nennung von Argumenten bereits vorprogrammiert.
Verschiedene Faktoren fördern die Selektivität. Entscheidend ist nicht, ob es tatsächlich „Sanktionen“ für abweichende Positionen gibt, sondern dass die Teilnehmenden dies vermuten oder annehmen. Die Selektivität ist häufig besonders stark, wenn die Führungsperson als wichtig und einflussreich wahrgenommen wird und – auf den ersten Blick kontraintuitiv – wenn die Gruppe einen hohen Zusammenhalt aufweist. Je einflussreicher die Führungsperson und je bedeutender die Gruppe ist, desto mehr fürchten die Personen, bei abweichenden Meinungen sanktioniert zu werden.
VdZ: Können Sie konkrete Methoden oder Werkzeuge empfehlen, mit denen Arbeitsgruppen und Gremien eine breitere Informationsbasis nutzen und konsensorientierte Fallen vermeiden können? Wie können Führungskräfte und Moderatoren aktiv dazu beitragen, diese psychologischen Fallstricke zu überwinden?
Prof. Bless: Das Kernziel sollte darin bestehen, die Selektivität, mit der Argumente vorgebracht werden, aufzubrechen. Wie kann dies erreicht werden? Hier kommt der Führungsperson eine große Verantwortung zu. Sie sollte ihre eigenen Argumente und Positionen möglichst nicht frühzeitig offenbaren, um zu verhindern, dass sich die Gruppenmitglieder daran orientieren. Eine weitere Verantwortung der Führungsperson besteht darin, strukturelle Elemente in die Gruppensitzung zu integrieren, die der Selektivität entgegenwirken. Hier gibt es zahlreiche Ansatzpunkte.
Der erste Schritt beginnt bei der Zusammensetzung der Gruppe. Oft ist diese recht homogen. Vorteilhaft ist eine, wie ich es gerne nenne, „kognitive Diversität“, das heißt, die Gruppenmitglieder sollten sich darin unterscheiden, wie sie Probleme betrachten. Führungspersonen sollten die Nennung abweichender, konträrer Argumente aktiv unterstützen. Es sollte ein Klima geschaffen werden, in dem niemand befürchten muss, dass eine konträre Meinung sanktioniert wird. Teilnehmende sollten ermutigt werden, aktiv widersprüchliche Meinungen und Ideen zu äußern, auch wenn diese unpopulär erscheinen. Das Gegenteil wäre, abweichende Positionen als „Bedenkenträger“ zu kennzeichnen.
Vorteilhaft ist eine, wie ich es gerne nenne, „kognitive Diversität“, das heißt, die Gruppenmitglieder sollten sich darin unterscheiden, wie sie Probleme betrachten.
Es kann sinnvoll sein, Personen zu bestimmen, deren Aufgabe es ist, gegen die Gruppenposition zu argumentieren – im Sinne eines „Advocatus diaboli“. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, strukturell Zeit einzuplanen, um Argumente zu sammeln, die gegen eine sich abzeichnende Mehrheit sprechen. Zudem ist es ratsam, sofern genügend Zeit vorhanden ist, Subgruppen zu bilden. Schließlich kann eine geheime Abstimmung über die Entscheidung ebenfalls sinnvoll sein.
Bei allen Maßnahmen sollten zwei Aspekte beachtet werden: (1) Es ist wichtig, dass die Maßnahmen strukturell verankert werden und die Abläufe der Gruppensitzung im Voraus klar geregelt sind. Eine ad-hoc-Umsetzung ist nicht zielführend. Man stelle sich nur vor, wie es wahrgenommen wird, wenn ein Teilnehmender spontan vorschlägt, die heutige Abstimmung geheim durchzuführen. (2) Die Führungsperson sollte sich bewusst sein, dass die beschriebenen Maßnahmen ihren Einfluss auf den Ausgang der Diskussion verringern können. Dies ist für manche Führungspersonen möglicherweise unerwünscht. Um dieses Problem zu lösen, kann es sinnvoll sein, die Argumentensuche in der Gruppe von der eigentlichen Entscheidungsfindung durch die Führungsperson explizit zu trennen.
VdZ: Sie haben verschiedene Methoden wie „Brainwriting“, „Premortem“ oder „Red-Teaming“ in der Präsentation angesprochen. Welche dieser Ansätze halten Sie für besonders effektiv, und wann sollte man sie einsetzen?
Prof. Bless: Alle drei Ansätze sind sinnvoll. Das „Brainwriting“ fördert den Austausch und die gegenseitige Inspiration unter den Teilnehmenden und eignet sich besonders gut für die Suche nach kreativen Lösungen.
Beim „Premortem“ stellt sich das Team vor, das geplante Projekt sei gescheitert, und diskutiert anschließend, welche Faktoren zu diesem Misserfolg geführt haben könnten. Diese Methode wird häufig in den frühen Phasen der Planung risikobehafteter Projekte eingesetzt, um potenzielle Fehlerquellen zu identifizieren und präventive Maßnahmen zu ergreifen.
Beim „Red Teaming“ wird die Gruppe dazu aufgefordert, eine bevorzugte Entscheidungsoption aus einer kritischen Perspektive zu hinterfragen. Diese Methode simuliert einen "Gegenspieler" ("Red Team"), der gezielt Schwächen aufdeckt und alternative Szenarien oder Risiken in Betracht zieht. Red Teaming kommt vor allem bei langfristigen, kritischen Entscheidungen zum Einsatz, die verschiedene Interessengruppen oder Szenarien betreffen.

Prof. Herbert Bless auf dem 11. Zukunftskongress Staat & Verwaltung
🗓️ 25. Juni, 11:00 - 12:00 Uhr
➡️ Hier geht's zur Werkstatt
Prof. Herbert Bless spricht auf dem 11. Zukunftskongress in der Werkstatt „ Wenn die Führungsebene die „Warum-“ und die Mitarbeitenden die „Wie“-Fragen in den Mittelpunkt stellen: Potenzielle Stolpersteine in der organisationalen Kommunikation".
VdZ: Als ein Problem listen Sie auch auf: „Ursprünglich verworfene Alternativen werden nicht wieder aufgegriffen“. In welchem Prozess können diese Alternativen wieder eingebracht werden?
Prof. Bless: Erneut plädiere ich auch hier für strukturelle Lösungen. Dies bedeutet, dass das Einbringen ursprünglich verworfener Alternativen fest im Prozess verankert werden sollte. Ein möglicher Ansatz wäre, sich vor der endgültigen Entscheidung bewusst noch einmal Zeit zu nehmen – nicht nur rhetorisch zu fragen „Gibt es noch andere Argumente?“, sondern tatsächlich bereits verworfene Alternativen erneut zu überprüfen. Wenn es der Zeitrahmen zulässt, empfehle ich, einen Schritt weiterzugehen und Entscheidungen nicht in der gleichen Sitzung zu treffen, in der die Argumente erarbeitet werden. Oft ist es hilfreich, „einmal darüber zu schlafen“, mit Abstand darüber nachzudenken und – sofern es die Geheimhaltung zulässt – sich mit Personen auszutauschen, die nicht Teil des Teams sind.
VdZ: Argumente, die zuerst eingebracht werden, sind besonders einflussreich („Kaskaden-Effekte“). Wie kann man sicherstellen, dass auch später vorgebrachte Ideen angemessen gewürdigt werden?
Prof. Bless: Oft ist es gerade das Ziel von Gruppendiskussionen, dass die Beiträge der anderen Teilnehmenden unsere eigene Suche nach Argumenten beeinflussen. Eine Möglichkeit, ungewollte Effekte zu vermeiden, besteht darin, dass die Gruppenmitglieder ihre Argumente im Vorfeld schriftlich festhalten. Das bedeutet, dass jeder seine Argumente formuliert, ohne die der anderen Teammitglieder zu kennen. Wenn die Argumente auf einem Whiteboard oder Flipchart gesammelt werden, kann eine zufällige Anordnung möglicherweise helfen, diesen Effekt zu verringern.
VdZ: Konnten Sie aus den Gesprächen in der Werkstatt des letzten ZuKos auch weitere Learnings oder besonders spannende Erfahrungen mitnehmen?
Prof. Bless: Die meisten Gespräche habe ich mit Teilnehmenden der Werkstatt geführt. Es war für mich besonders spannend zu beobachten, dass – obwohl die Teilnehmenden aus sehr unterschiedlichen Bereichen kommen – bei allen ein tiefes Verständnis dafür vorhanden war, dass die „Psychologie“ in Organisationen ein zentraler und wichtiger Aspekt ist, der jedoch oft schwer in den strukturellen Rahmenbedingungen umgesetzt werden kann. Gerade wenn man den „Elfenbeinturm“ der Forschung verlässt, sind solche Rückmeldungen extrem wertvoll, da sie helfen, wissenschaftliche Erkenntnisse so zu präsentieren, dass sie in der Praxis tatsächlich anwendbar werden.
VdZ: Für den diesjährigen Zukunftskongress haben Sie eine Werkstatt geplant zum Thema "Wie und Warum". Können Sie erläutern, um was es in der Werkstatt gehen wird?
Prof. Bless: Wenn Menschen miteinander kommunizieren, kann es vorkommen, dass sie „aneinander vorbeireden“ und das Gesagte beim Gegenüber nicht richtig ankommt. Dafür gibt es verschiedene Ursachen, und eine davon liegt in den unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten – insbesondere dann, wenn sie sich auf unterschiedlichen Hierarchieebenen befinden, wie etwa Führungskräfte und Mitarbeitende.
Führungskräfte haben meist eine „Warum“-Perspektive: Warum ist es wichtig, eine bestimmte Maßnahme umzusetzen, zum Beispiel strukturelle Veränderungen in der Organisation? Was spricht dafür? Warum ist das Ziel erstrebenswert? Welche langfristigen Folgen sind damit verbunden? Mitarbeitende hingegen tendieren eher zu einer „Wie“-Perspektive: Ist die Maßnahme überhaupt machbar und umsetzbar? Was spricht dagegen? Welche Hindernisse könnten auftreten? Welche kurzfristigen Folgen sind zu erwarten?
Diese unterschiedlichen Perspektiven können sich potenziell gut ergänzen, führen jedoch oft zu sehr unterschiedlichen Bewertungen und Missverständnissen – insbesondere, wenn es um mögliche Widerstände gegenüber Neuerungen und Veränderungen geht.
In der Werkstatt erkläre ich, wie sich diese verschiedenen Perspektiven auswirken, welche Faktoren sie beeinflussen und wie sie verändert werden können.
VdZ: Was hat Sie dazu bewogen, die Diskrepanz zwischen „Warum-“ und „Wie“-Perspektiven in der Kommunikation näher zu untersuchen?
Prof. Bless: Meine Forschung beschäftigt sich mit der Frage, wie Menschen Entscheidungen treffen und warum sie objektiv gleiche Situationen subjektiv sehr unterschiedlich wahrnehmen. Die Unterschiede zwischen einer „Wie“- und einer „Warum“-Perspektive sind theoretisch gut fundiert und zugleich von hohem praktischem Nutzen. Diese Kombination ist besonders spannend, wenn man daran interessiert ist, wissenschaftliche Erkenntnisse für Zielgruppen außerhalb des Elfenbeinturms greifbar und anwendbar zu machen.
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