E-Government der Ukraine
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E-Government in der Ukraine

Ein Land im Krieg als Vorbild für Deutschland

Man sollte meinen, dass ein Land im Krieg dringendere Sorgen hat als die
Digitalisierung der Verwaltung, dennoch lohnt ein genauerer Blick auf den Stand des e-Government in diesem Land. Robert Müller-Török, Professor an der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg, und Alexander Prosser, Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien, nehmen die Situation genauer in Augenschein.

Noch vor fünf Jahren war die Ukraine im Bereich Digitalisierung ein durchschnittlicher Staat der zweiten Welt. Zu diesem Schluss kam jedenfalls der eGovernment Development Index (EGDI) 2018 der Vereinten Nationen, in dem die Ukraine mit 0,62 an 82. Stelle lag. Zum Vergleich: Dänemark liegt an erster Stelle mit 0,92. Ein näherer Blick zeigt aber, dass dies vor allem auf die schlecht ausgebauten Services und die Infrastruktur (0,57 bzw. 0,44) zurückzuführen war, während die Human Capital-Komponente mit 0,84 auf westeuropäischem Niveau lag.

Der spätere Präsident Selenskyj schrieb jedenfalls bereits in seinem Wahlprogramm 2019 an prominenter Stelle (auch im Folgenden wird automatisiert vom ukrainischen Original übersetzt):

»

Öffentliche Prozesse sollten automatisiert werden, denn Computer nehmen keine Bestechungsgelder an. Dienstleistungen, die elektronisch erbracht werden können, werden vorrangig umgesetzt. […] Um dies zu erreichen, ist es notwendig, die maximale Anzahl von Dienstleistungen in elektronischer Form zu erbringen, ohne dass ein Bürger oder eine Organisation mit einem bestimmten Beamten in Kontakt kommt.

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Präsident Wolodymyr Selenskyj

Dabei wurden die wesentlichen rechtlichen und organisatorischen Grundbausteine bereits in der Vergangenheit gesetzt (hier eine Zeitachse):

  • 2004 Gesetz zur digitalen Signatur,
  • 2010 Datenschutzgesetz,
  • 2017 nationales e-Government Konzept und Übernahme von eIDAS,
  • 2018 Gesetz über elektronische Register (dem RegMoG vergleichbar).

Vor allem das e-Government Konzept enthält wesentliche Bausteine einer modernen zeitgemäßen Verwaltung nach den Prinzipien „digital by default” und „once only” (letzteres ganz analog zum OZG): Entwicklung von elektronischen Identifizierungs- und Vertrauensdiensten inkl. Mobile ID und Bank ID, Grundsatz einer einzigen Anlaufstelle mit Entwicklung und Betrieb eines einheitlichen staatlichen Portals für Verwaltungsdienste, Registermodernisierung analog zum RegMoG, Entwicklung eines Fernunterrichtssystems, elektronische Vergabe, Einführung einer elektronischen Patientenakte und eines elektronischen Rezepts, um nur die wichtigsten zu nennen.

Wo steht die Ukraine im e-Government heute?

Unter Präsident Selenskyj wurden viele Prozesse innerhalb kürzester Zeit automatisiert und digitalisiert. Wie gelang dem Land dieser digitale 180 Grad-Wandel?
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2019 bei Amtsantritt der Administration Selenskyj stand die Ukraine in etwa dort, wo die Bundesrepublik heute steht: die gesetzlichen und konzeptuellen Rahmenbedingungen waren gesetzt – umgesetzt war hingegen kaum etwas. Wie ist der Befund nun heute?

Zunächst sind für viele Menschen in den besetzten Gebieten, im Ausland oder in der unmittelbaren Kriegszone e-Government-Services oftmals die einzige Möglichkeit mit der Verwaltung in Kontakt zu treten und wichtige Behördenwege überhaupt zu erledigen. Wir sprechen hier von über 5,1 Mio. Binnenflüchtlingen in der Ukraine, 6,2 Mio. ukrainischen Flüchtlingen im Ausland sowie eine Zahl von zumindest 3 Mio. in den illegal von Russland besetzten Gebieten, allein 2,3 Mio. auf der Krim.

Die zentrale App für Zugang zu digitaler Verwaltung ist Dija (Дія, “Aktion”) mit aktuell 19,5 Mio Nutzern (Stand September 2023). Die App wurde von Präsident Selenskyj am 6. Februar 2020 vorgestellt. Wesentlicher Grundstein für den Erfolg der App sind Registerzugriff und eID. Die Register sind in einem dezentralen Netzwerk quer über die Ukraine gespeichert. Zusätzlich gibt es ein Backup in Estland. Damit sind Anträge an die Verwaltung über Dija einfacher zu stellen als über Papier, da der App über den Registerzugriff bereits viele Daten zum Antrag bekannt sind. Auch das ist ein Faktor bei der zunehmenden Beliebtheit der App.

Die App basiert auf einer digitalen Signatur, diese wiederum auf dem zentralen Einwohnermelderegister. Für die Funktion als Signaturanbieter gibt es eine Reihe staatlicher und auch privater, vom Staat zertifizierter Stellen – vor allem Banken und Sparkassen. Die eID kann über eine Bankfiliale oder e-Banking beantragt werden und ist ein bis zwei Jahre gültig. Sie ist für die Nutzer kostenlos. Die Kostenpflicht ist, wenn man sich erinnert, ein wesentlicher Grund für das Scheitern der ursprünglich an einen Kartenleser gebundenen eID/nPA und der mit ihr ursprünglich verbundenen digitalen Signatur in Deutschland sowie der De-Mail gewesen. Auch ein öffentliches System zur Signaturprüfung ist für jedermann verfügbar. Ein Selbsttest ergab, dass ausländische eIDAS-Signaturen allerdings nicht erkannt werden.  

Dija (Дія, “Aktion”), die digitale Verwaltungs-App der Ukraine. Aktuell verzeichnet sie 19,5 Millionen Nutzende (Stand September 2023).
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Auf diesen beiden Grundbausteinen, Register und eID, baut nun eine erhebliche Palette von Diensten auf. Dija ist der im e-Government Konzept 2017 definierte One-Stop-Shop für die Kommunikation mit dem Staat. Zunächst gibt es eine Anzahl von kriegsbezogenen Diensten, wie das Melden russischer Truppenbewegungen (e-Enemy), Schäden am Eigentum oder einer Evakuierungsbitte. Über das System werden auch Kriegsanleihen verkauft.

Das System fokussiert allerdings auf „klassisches” eGovernment, eine Liste der Dienste findet sich auf der Dija Homepage (Hinweis: im Browser die automatische Übersetzungsfunktion aktivieren). Die Dienste sind in Privatpersonen und Unternehmen gegliedert und bei ersteren nach dem bekannten Lebenslagenkonzept gegliedert.

Dem interessierten Leser oder der Leserin wird der Besuch der Dija Homepage empfohlen, denn hier können nur Beispiele genannt werden: Kfz-Anmeldung, Bau- und Sanierungsverfahren (inkl. vereinfachtes Verfahren nach Kriegsschäden), standesamtliche Dienstleistungen, Meldewesen, staatliche Bestätigungen (Staatsbürgerschaft, Geburtsurkunde, Führungszeugnis, etc.) sowie die Beantragung von Zuschüssen und Entschädigungen. Behördlich ausgestellte Dokumente sind von der Behörde digital signiert – während das seit 1999 bzw. 2001 in Deutschland mögliche elektronische Behördensiegel noch immer nicht existiert. Besonders wichtig sind auch Anträge im Rahmen der Veteranenhilfe.

Auch die Einkommensteuererklärung kann über Dija eingereicht werden, der Steuerbescheid wird über die App zugestellt und ein Guthaben ausbezahlt bzw. Nachzahlungen können direkt über die App geleistet werden.

Die Ukraine macht große Sprünge in Sachen eGovernment. Deutschland hinkt hinterher: Trotz milliardenschwerer Investitionen wird viel weniger erreicht. Was kann man sich von der Ukraine abgucken?
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Dass die Ukraine hier mit Dija an Deutschland vorbeigezogen ist, ist auch der Qualitätspresse nicht verborgen geblieben. Liest man von nur ca. 25 Softwareentwicklern und 19,5 Mio. Nutzern (oder 70 Prozent der erwachsenen Gesamtbevölkerung) für die eigentliche App-Entwicklung und mutmaßlich ebenso schlanker Ressourcenausstattung für Registermodernisierung und digitaler Signatur, so bleibt einem nur der Eindruck, dass Deutschland trotz Milliarden an Investitionen offenbar wenig im e-Government erreicht.

Was sind die Erfolgsfaktoren?

Die Ukraine hat nicht, so wie Deutschland im OZG, etliche hundert Prozesse identifiziert und dann jeden isoliert für sich allein „digitalisiert“, sondern sich auf die wesentlichen Kernfunktionen konzentriert, die Basisinfrastruktur für e-Government:

  1. eID und Signatur
  2. zentrale Register
  3. elektronische Zustellung.

Wie wir in der jüngst überstandenen COVID-19-Pandemie erlebt haben, ist jede e-Government-Funktionalität wie ein Anmeldeportal für Impfungen völlig ineffektiv, wenn es keine in der Bevölkerung verbreitete eID gibt. Ebenso ist ohne gepflegte und zentrale Register, in denen man die Basis für vorausgefüllte Formulare findet, ein Umtausch von Papier- in Kartenführerscheine nicht digital umsetzbar, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Die Grundlage für jedes e-Government: Eine eID muss fest verankerter Bestandteil im Land sein.
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Was den in Deutschland populären Datenschutz betrifft, gilt wohl die Aussage von Sascha Lobo: „Er ist durch eine Vielzahl von Absurditäten, Inkonsistenzen und Fortschrittsfeindlichkeiten zu einer intransparenten Verhinderungswaffe geworden.“ Um hier nicht falsch verstanden zu werden: Datenschutz ist ein wichtiges Grundrecht – nur darf er in der Praxis nicht dazu führen, dass der Bürger vor einem gesetzeskonformen und wirtschaftlichem Vollzug geschützt wird, indem der Verwaltung notwendige Arbeitsdaten vorenthalten werden. Als Beispiel sei das Dieselfahrverbot in München und anderen Städten genannt, welches ohne zentrale Register und Datenaustausch faktisch nicht überwacht werden kann. Denn (verbotene) Euro-4-Fahrzeuge weisen dieselben grünen Plaketten auf, wie erlaubte Euro-5- und Euro-6-Fahrzeuge. Ebenso scheint die behördenseitige und automatisierte Nutzung eines zentrales Fahrzeugregister, aus dem anhand des Kennzeichens die Schadstoffklasse wenigstens für in Deutschland zugelassene Kfz ableitbar wäre, datenschutzrechtlich „problematisch“. Von intelligent-digitalen Lösungen wie der kameraüberwachten Ultra-Low-Emission-Zone in London gar nicht erst zu reden.

Und, zuletzt, ist eine Digitalisierung von Verwaltungsleistungen ohne die Zustellung des Ergebnisses auf elektronischem Weg stets suboptimal. Kein Webshop würde seine Rechnungen in Papierform verschicken – doch die deutsche Verwaltung tut genau das mit ihren Bescheiden.

Es ist zu hoffen, dass man in Berlin endlich zur Erkenntnis kommt, dass es kein Zeichen von Schwäche ist, gute Vorbilder zu imitieren. Und nicht weiterhin „nationale Lösungen“ entwickelt, die ähnlich wie die De-Mail von Anbeginn her zum Scheitern verurteilt sind.

Abschließender Kommentar

Es ist beeindruckend zu sehen, wie ein Land mitten im Krieg und permanenten Bombardements, von dem knapp ein Fünftel des Staatsgebietes von den russischen Aggressoren besetzt und das erheblichen Cyberattacken ausgesetzt ist, die Innovationskraft besitzt, ein e-Government-System zu implementieren, das den Vergleich mit den führenden Industrienationen nicht nur nicht zu scheuen braucht, sondern zumindest einer von ihnen deutlich überlegen ist.

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