Schwerpunkte und Philosophie
Verwaltung der Zukunft: Herr Sieveke, Sie sind seit zwei Jahren Staatssekretär im Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung und erst seit einigen Monaten zusätzlich auch CIO der Landesregierung Nordrhein-Westfalen. Welche neuen Schwerpunkte setzen Sie in Ihrer Arbeit?
Daniel Sieveke (CIO NRW): Wir setzen auf Fokussierung, Standardisierung und eine kritische Überprüfung der eingeschlagenen Wege. Dazu müssen wir uns in den verschiedenen Gremien wie dem IT-Planungsrat und der Digitalministerkonferenz engagieren, aber auch im direkten Austausch mit den Kommunen und unterschiedlichen Ressorts stehen.
Estland als Vorbild und der Weg Deutschlands
VdZ: Estland wird oft – vielleicht auch zu oft – als Vorbild genannt. Wie sehen Sie die digitalen Entwicklungen dazu im Vergleich zu Deutschland und Nordrhein-Westfalen?
Sieveke: Es ist wichtig, von erfolgreichen Beispielen wie Estland zu lernen, aber wir müssen auch ehrlich sein: Wenn Politiker nach Estland reisen und beeindruckt zurückkommen, sollten sie auch bereit sein, ähnliche Maßnahmen in Deutschland umzusetzen. In Estland kann ich auf die Daten zugreifen. Das dürfen Sie so in Deutschland nicht. Entweder entscheiden wir uns für ein anderes Verständnis von Datenschutz oder wir hören auf von Estland zu träumen. Wir müssen uns auf das Wesentliche konzentrieren, ressortübergreifend arbeiten, priorisieren und überlegen, welche Projekte wirklich notwendig sind und uns voranbringen. Das Onlinezugangsgesetz (OZG) mit seinen 500 Leistungen ist zu komplex. Digitalisierung sollte den Menschen dienen, nicht umgekehrt.
Standardisierung und Architektur
VdZ: Wie sehen Sie die Herausforderung einer bundesweiten Standardisierung und die Notwendigkeit einer gemeinsamen Architektur für die öffentliche IT-Landschaft?
Wir sitzen im gleichen Boot. Wir haben das gleiche Ziel, aber wir müssen vielleicht auch nochmal unsere Reiseroute neu justieren.
Sieveke: Digitalisierung kostet Geld, und wir müssen die Mittel klug einsetzen. Eine gemeinsame Architektur ist notwendig, aber sie muss praktikabel und flexibel sein. Das Projekt "Einer für Alle" (EfA) ist ein guter Ansatz, aber wir müssen sicherstellen, dass entwickelte Lösungen auch von anderen Bundesländern genutzt werden können. Dabei müssen wir auch europäische Zusammenhänge berücksichtigen. Standardisierte Prozesse helfen uns, effizienter zu arbeiten und Fehler zu minimieren. Allerdings darf Standardisierung nicht bedeuten, dass wir analoge Prozesse 1:1 digitalisieren. Wir brauchen Vereinheitlichung und eine klare Struktur.
Georg Lucht (Abteilungsleiter Digitalisierung der Landesverwaltung im Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung des Landes Nordrhein-Westfalen): Eine gemeinsame Architektur bedeutet, sich auf wesentliche Standards zu einigen, um Fortschritte zu erzielen. Das ist entscheidend, besonders in einem föderalen System. Wichtig ist, dass es gelingt, sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren. Auf die wichtigen Eckpunkte. Um beim Beispiel Architektur zu bleiben: sich auf den Grundriss verständigen zu können, um auf Länderebene gemeinsam Fortschritte zu machen. Das ist sehr wichtig.
Sieveke: Wenn Sie eine Kritik von mir hören wollen, ist - glaube ich - in der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung in den letzten Jahren zu oft das Denken outgesourced worden, dass andere uns sagen sollten, welche Schritte wir gehen könnten. Und dann fanden wir es nicht spannend.
Aber wir müssen selber denken und sagen: welche Herausforderungen, Notwendigkeiten haben wir, um den Prozess aktiv mitzugestalten. Darauf zu warten, dass andere uns Lösungen liefern reicht nicht. Das funktioniert nicht.
VdZ: Wen meinen Sie mit andere? Berater oder Dienstleister?
Sieveke: Alle. Es bringt nichts, Aufgaben an externe Berater auszulagern, ohne selbst aktiv zu sein.
Fehlerkultur und Dienstleistungskultur
VdZ: Sie haben die Fehlerkultur erwähnt. Wie wichtig ist es in der öffentlichen Verwaltung, Scheitern zuzulassen?
Banken haben ähnliche Herausforderungen erlebt, wie mit der Geldkartenfunktion, mit der man kleinere Beträge bezahlen konnte. Hat sich nie durchgesetzt. Corona hat dazu geführt, dass wir sogar bei Bäckereien bargeldlos bezahlen. Die grundsätzliche Überlegung einer ‚Prepaid-Card‘ ist gescheitert, aber die Idee hat sich durchgesetzt. Manchmal braucht es einen langen Atem.
Sieveke: Sehr wichtig. Wir müssen wegkommen von der Angst vor Fehlern. Eine Kultur des Scheiterns trägt auch zur Verbesserung bei. Ohne die Bereitschaft, Fehler zu machen, fehlt die Innovationsbereitschaft. Scheitern gehört zum Entwicklungsprozess dazu. Wir müssen uns offen für neue Ansätze zeigen. Wir müssen bereit sein, eine Kultur zu schaffen, in der Fehler nicht sanktioniert, sondern als Lernmöglichkeiten gesehen werden. Das gilt sowohl für die öffentliche Verwaltung als auch für die Industrie. IT-Sicherheit bedeutet nicht, keine Risiken einzugehen, sondern Risiken klug zu managen. Wir müssen manchmal auch Projekte loslassen, wenn sich bessere Lösungen ergeben. Das gilt auch für kommunale Rechenzentren. Standardisierung und Konsolidierung sind notwendig, aber wir müssen flexibel bleiben und kontinuierlich neu bewerten. Parallel dazu sollten wir die Dienstleistungskultur stärken. Die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger muss unser oberstes Ziel sein.
Parteipolitik durchbrechen
VdZ: Wieviel Parteipolitik verträgt die Digitalisierung?
Sieveke: Digitalisierung darf nicht parteipolitisch sein. Die Bürger interessiert in erster Linie, ob etwas funktioniert. Wir müssen bereit sein, loszulassen und Aufgaben gegebenenfalls zu zentralisieren, um Effizienz zu steigern. Ein Beispiel ist der Personalausweis: Statt komplizierter Prozesse sollte der Antrag einfach und effizient sein. Dienstleistungskultur bedeutet, den Bürgerinnen und Bürgern die bestmögliche Unterstützung zu bieten, nicht bürokratische Hürden aufzustellen.
Finanzielle Mittel und Priorisierung
VdZ: Angesichts knapper Mittel, gibt es Bereiche, in denen Sie Standardisierung und Konsolidierung besonders vorantreiben?
Sieveke: Ja, besonders im Bereich der kommunalen Rechenzentren. Hier brauchen wir mehr Standardisierung und einen stärkeren Fokus auf Informationssicherheit. Die Kommunen haben in der Vergangenheit viel geleistet, aber die Mittel werden knapper. Wir müssen uns auf das Wesentliche konzentrieren und klar definieren, welche Projekte die größte Wirkung haben. Kommunen signalisieren uns, dass sie bestimmte Aufgaben auf Dauer nicht mehr alleine bewältigen können. Daher ist es klug, kontinuierlich neu zu bewerten und gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen. Dabei spielt auch die Digitalisierung eine entscheidende Rolle: Durch digitale Lösungen können wir Prozesse effizienter gestalten und uns so auf die wirklich wichtigen Aufgaben konzentrieren.
Staatsreformen und Bürokratieabbau
VdZ: Brauchen wir größere Staatsreformen, um auch die Digitalisierung und Modernisierung voranzubringen?
Sieveke: Wir müssen Bürokratie abbauen und Strukturen überdenken. Es geht nicht darum, bestehende Maßnahmen zu kritisieren, sondern darum, zukunftsfähige Lösungen zu entwickeln. Bürokratieabbau ist ein Prozess, der von allen Beteiligten getragen werden muss. Wir müssen bereit sein, Verantwortung zu übernehmen und uns von hinderlichen Strukturen zu lösen.
Dienstleistungskultur als Schlüssel
VdZ: Wie sehen Sie die Rolle der Dienstleistungskultur in der Verwaltung?
Sieveke: Ja, eine Dienstleistungskultur ist entscheidend. Digitalisierung bedeutet nicht nur technische Lösungen, sondern auch eine positive Dienstleistungserfahrung für die Bürgerinnen und Bürger. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern zeigen, dass die Digitalisierung ihr Leben erleichtert und ihnen klarmachen, welchen Nutzen digitale Lösungen bieten und wie sie den Alltag erleichtern können.
Ausblick
VdZ: Wenn Sie die Macht hätten und alles selbst planen und steuern könnten, wie würden Sie in einer nächsten Regierung die Digitalisierung in Deutschland politisch verankern?
Sieveke: Um die Handlungsfähigkeit des Staates zu gewährleisten, brauchen wir die Bündelung von Aufgaben, um die Digitalisierung öffentlicher Leistungen nach vorne zu bringen. Digitalisierung ist ein komplexer Prozess, der Mut, Flexibilität und eine klare Fokussierung auf die Bedürfnisse der Menschen erfordert. Wir brauchen die Bereitschaft, unsere Strukturen kontinuierlich zu überprüfen und anzupassen. Digitalisierung wird uns in die Zukunft führen, muss aber aktiv gestaltet werden. Solche Phasen des Umbruchs hat die Menschheit im Laufe der Zeit und der letzten Jahrhunderte schon häufiger durchlaufen. Dieser Prozess ist noch rasanter und entweder sind wir dabei und schaffen es, oder wir sind nicht dabei und schaffen es nicht. Deswegen brauchen wir Bereitschaft und Überzeugung.